Als Vizepräsident des Deutschen Werkbundes (1926-1932) wurde Mies van der Rohe mit der Realisierung des Gesamtprojektes der ‘Weißenhof-Siedlung’ bei Stuttgart betraut, die 1927 als Ausstellung eröffnet wurde. Im Rahmen der Vorbereitungen traf er sich am 22. November 1926 mit Heinz Rasch, Mart Stam und anderen in Stuttgart. Während des Gesprächs erläuterte Mart Stam seinen Entwurf eines hinterbeinlosen Stuhls und skizzierte ihn. Da es Stam auf ein kubisches, geometrisch klares Erscheinungsbild ankam, wählte er Gasrohrabschnitte, die durch Winkel-Fittings mit kleinen Radien miteinander verschraubt wurden.
“Mies kam im November 1926 aus Stuttgart zurück und erzählte von Mart Stam und seiner Stuhlidee. Wir hatten ein Zeichenbrett an der Wand, darauf zeichnete Mies den Stam-Stuhl, rechtwinkelig, von oben angefangen. Auch die Muffen fügte er hinzu und sagte: ‘Hässlich, so was Hässliches mit diesen Muffen. Wenn er wenigstens abgerundet hätte – so wäre es schöner’ und skizzierte einen Bogen. Nur ein Bogen aus seiner Hand an der Stam-Skizze machte den neuen Stuhl aus”.
Für das Interieur eines Stam-Hauses in der ‘Weißenhof-Siedlung’ wurden mehrere Stam-Stühle bei der Eisenmöbelfabrik Arnold in Schorndorf bei Stuttgart angefertigt, jedoch ohne Muffen aus heiß gebogenen Eisenrohren. Da diese zu weich waren, gab ein erster Prototyp, auf den sich Stam setzte, unter dem Körpergewicht nach. Verstärkungen aus Rundeiseneinlagen schufen eine ausreichend stabile, jedoch biegesteife Konstruktion. Währenddessen experimentierte Mies van der Rohe mit Mannesmann- Präzisionsstahlrohren, die er kalt formte, wodurch die elastische Eigenschaft des dünnwandigen Stahlrohres erhalten blieb. Die Halbkreis-Bögen der ‘Vorderbeine’ begünstigten diesen Effekt, da sie die Federwirkung des Rohrs optimal unterstützen. Kurze Zeit nach Mart Stam stellte auch Mies van der Rohe seine Stühle, die ersten Stahlrohr-Freischwinger in der ‘Weißenhof-Siedlung’ aus. Die Nachgiebigkeit der Konstruktion gewährleistete einen hohen Sitzkomfort, wie er sonst nur von gepolsterten Stühlen und Sesseln bekannt war, ohne ihre Behäbigkeit übernehmen zu müssen. Die filigrane Leichtigkeit der Stahlrohrmöbel prädestinierte sie für die Interieurs des ‘Neuen Bauens’.
Im Jahr der Erstpräsentation stellte Mies van der Rohe auch in Amerika einen Patentantrag für den Freischwinger. Die Patenterteilung wurde ihm mit dem Hinweis auf das amerikanische Patent Harry E. Nolans aus dem Jahre 1924 (1922 beantragt) zunächst verwehrt, da dieses bereits einen freischwingenden Gartensessel mit Spiralfederung vorsah. Erst nachdem Mies van der Rohe durch den Bau eines Prototypen des nie realisierten Modells nachweisen konnte, dass dieser aus massiven, stählernen Rundstäben gebildete Sessel nicht federn konnte, wurde ihm das Patent erteilt. Ausgelöst durch die ‘Werkbund’-Ausstellung in der ‘Weißenhof-Siedlung’ setzte eine Welle von Abwandlungen, Verbesserungen aber auch Kuriositäten in Stahlrohr ein. Heute wird Mies van der Rohe Freischwinger in jeweils unterschiedlichen Ausführungen von Tecta, Lauenförde, Thonet, Frankenberg und Knoll International angeboten.