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Werkbundziele (1911)

Der Form wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, muß die fundamentale Aufgabe unserer Zeit, muß der Inhalt namentlich jeder künstlerischen Reformarbeit sein, um die es sich heute handeln kann. Der glückliche Verlauf der kunstgewerblichen Bewegung, die die innere Ausstattung unserer Räume neu gebildet, die den Spezialgewerben neues Leben eingehaucht und der Architektur fruchtreiche Anregung gegeben hat, kann nur als kleines Vorspiel dessen betrachtet werden, was noch kommen muß. Denn trotz allem, was wir erreicht haben, waten wir noch bis an die Knie in Formverwilderung. Bedarf es dafür eines Beweises, so sei auf die Tatsache hingewiesen, daß täglich und stündlich unser Land noch mit Bauerzeugnissen minderwertigsten Charakters bedeckt wird, mit Erzeugnissen, die unserer Zeit unwürdig sind und die der Nachwelt eine nur allzu beredte Sprache von der Unkultur unserer Tage reden müssen. Was hat es aber für einen Sinn, von Erfolgen zu sprechen, solange dies noch der Fall ist? Gibt es ein treffenderes Zeugnis für den Geschmack eines Volkes als die Architekturgebilde, mit denen es seine Straßen und Ortschaften besetzt? Was wollte es demgegenüber heißen, wenn wir beweisen könnten, daß heute bereits die Kräfte für eine anständige architektonische Gestaltung vorhanden seien, daß diese Kräfte nur nicht an die Aufgaben herangelangten?
Eben daß sie nicht herangelangen, bezeichnet den Kulturstand der Zeit. Eben daß Tausende und aber Tausende unseres Volkes nicht nur an diesem Verbrechen gegen die Form empfindungslos vorübergehen, sondern daß sie als Bauherren durch die Wahl ungeeigneter Berater noch zu ihrer Vermehrung beitragen, eben das ist das untrügliche Zeugnis für den Tiefstand unseres Formgefühls und damit unserer künstlerischen Kultur überhaupt.

Der Deutsche Werkbund wurde in Jahren gegründet, in denen sich ein engerer Zusammenschluß aller an den guten Bestrebungen Beteiligten gegen anstürmende Widersacher notwendig machte. Seine Kampfesjahre nach dieser Richtung sind heute vorüber. Den Ideen, um die es sich handelt, wird von keiner Seite mehr widersprochen, sie erfreuen sich allgemeiner Billigung. Ist damit etwa seine Existenz überflüssig geworden? Man könnte auf solche Gedanken kommen, wenn man das engere gewerbliche Schaffensgebiet allein in Betracht zöge. Wir können uns aber nicht damit begnügen, das Sofakissen und den Stuhl in Ordnung gebracht zu haben, wir müssen weiter denken. In Wahrheit beginnt erst jetzt, zugleich mit dem Eintritt in die Friedensära, die eigentliche Arbeit des Deutschen Werkbundes. Und wenn bisher bei der Werkbundarbeit der Qualitätsgedanke im Vordergrund stand, wir aber heute schon feststellen können, daß das Qualitätsempfinden in Deutschland, was Technik und Material betrifft, in raschem Aufstieg begriffen ist, so ist euch mit diesem Erfolg die Aufgabe des Deutschen Werkbundes noch nicht erfüllt. Weit wichtiger als das Materielle ist das Geistige, höher als Zweck, Material und Technik steht die Form. Diese drei können tadellos erledigt sein, und wir würden, wenn die Form nicht wäre, doch noch in einer Welt der Roheit leben. So stellt sich uns als Ziel immer deutlicher die weit größere und weit wichtigere Aufgabe vor die Augen: die Wiedererweckung des Verständnisses und die Neubelebung des architektonischen Empfindens. Denn die architektonische Kultur ist und bleibt der eigentliche Gradmesser für die Kultur eines Volkes überhaupt. Wenn ein Volk zwar gute Möbel und gute Beleuchtungskörper erzeugt, aber täglich die schlechtesten Architekturgebilde hinsetzt, so kann es sich nur um heterogene, ungeklärte Zustände handeln, um Zustände, die eben gerade in ihrer Gemischtheit den Mangel an Disziplin und Organisation beweisen. Kultur ist ohne eine bedingungslose Schätzung der Form nicht denkbar, und Formlosigkeit ist gleichbedeutend mit Unkultur. Die Form ist in demselben Maße ein höheres geistiges Bedürfnis, wie die körperliche Reinlichkeit ein höheres leibliches Bedürfnis ist. Dem wirklich kultivierten Menschen bereiten Roheiten der Form fast körperliche Schmerzen, er hat ihnen gegenüber dasselbe Unbehagen, das ihm Schmutz und schlechter Geruch verursachen. Solange aber der Sinn für die Form bei den Gebildeten unserer Nation nicht bis zu der Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach reiner Wäsche entwickelt ist, solange sind wir auch noch weit von jenen Zuständen entfernt, die sich in irgend einen Vergleich mit den Zeiten einer hohen Kulturblüte stellen könnten…

Werk

Auszug aus: Conrads, Ulrich, Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts. Bauwelt Fundamente 1. Gütersloh, Berlin München 1964, S. 23 f.

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