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Produktform und Gesellschaft

[…] Zwischen Handwerks- und Kunstarbeit differenziert sich in historischer Zeit die Gestaltung von Gebrauchs- und Luxusgütern aus. Doch muss man eine deutliche Grenze zwischen vorindustriellen und industriellen Produktkulturen und Gestaltungstätigkeiten ziehen. Denn erst hier präzisiert sich das Berufsbild des Designers, beginnt die moderne Produktionsweise eine neue und eigene Ästhetik zu entfalten und verändert sich das Verhalten gegenüber der Objektwelt. Die Veränderungen betreffen die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen, und zwar gekoppelt an das Tempo der Industrialisierung.

[…] Zwei Klassiker der Kulturtheorie, die auf Gegenstandsbezüge eingehen, der eine in der Analyse vorindustriellen Entwicklungen des alltagskulturellen Verhaltens, der andere fasziniert vom Gang der Mechanisierung des modernen Lebens, sprechen nirgends über Formgebung im Sinne von Design, sondern von einer Durchgestaltung der Kulturen auf der Grundlage sich langsam oder rasch verändernder gesellschaftlicher Reproduktionsbedingungen.

[…] Messer und Gabel wurden gleichsam vom kollektiven Bedürfnis und von der gesellschaftlich produzierten Handhabungsweise entworfen und zu Gegenständen kultureller Erfahrung und Tradition gemacht.

[…] Die Ästhetik der Erscheinungs- und Handlungsformen der Werkzeuge für das Leben folgt der Überlieferung und ihrer langsamen Veränderung aus gesellschaftlichem Bedürfnis. Noch Anfang des 19. Jahrh. gibt es in Deutschland keine Design- Diskussion. Auch wenn der Klassizismus schon ein Programm enthält, sind die schlichte Kanne aus der Manufaktur oder der Schreiner-Stuhl, wie er in Goethes Arbeitszimmer stand, Ausdrucksform von Lebensweise, Moral und Schönheitsempfinden ihrer Hersteller und Gebraucher.

[…] Lampe, Nähkasten und Tisch lösen sich als Entwürfe und im Gebrauch noch nicht aus dem gewachsenen kulturellen Zusammenhang. Man könnte sagen, die Gegenstände waren damals, auf der Schwelle zum Industriezeitalter, noch nicht übermächtig. Bis zu dieser Schwelle darf man wie Norbert Elias den Formen und Ritualen des Gebrauchs und ihrer Entstehung auf sozio- und psychogenetischer Grundlage mehr Aufmerksamkeit zuwenden als den Formen des Geräts.

[…] Nicht das Werkzeug wird zivilisiert, sondern dessen Gebrauch und Wahrnehmung. Erst ändern sich die Menschen, die gesellschaftlichen Rituale des Miteinander, und schließlich färbt davon auch etwas auf die Form der Geräte ab.

[…] Die gesellschaftlich produzierte Geste, ihr Inhalt oder ihre kulturelle Bedeutung entstehen vor dem sichtbaren Design der Gegenstände.

[…] Für eine Annäherung an Designgeschichte lehren die Analysen von Elias, dass die in vorindustrieller Zeit produzierten Gegenstände in ihrer Funktion und Gestalt Reflexe auf das gesellschaftlich definierte, sich über lange Zeit konstant haltende oder nur langsam ausdifferenzierende Ritual des Gebrauchens darstellen. Das heißt auch, dass die alten Gegenstandsformen im Einklang mit den Bedürfnissen standen und sie sich nicht erst schaffen mussten.

[…] Erst die Industrialisierung treibt einen so scharfen Widerspruch zwischen Natur und Kultur, Mensch und Objektwelt, Organischem und konstruierter Künstlichkeit hervor, dass sich das Verhältnis von Gegenstandsform und gesellschaftlicher Erfahrungsdichte umzukehren scheint. Für die Wahrnehmung werden gegenstandsgebundene Funktionen und Gestaltungszusammenhänge bedeutsam, die es vordem nicht gegeben hat und die sich nun von alten Formen des sozialen Miteinanders abkoppeln.

[…] Der Zuwachs an differenzierten Werkzeugen und die Erleichterung von Verrichtung en durch technische Hilfen bedeuten einerseits Entlastung von harter körperlicher Arbeit, andererseits eine größere Entfernung der Menschen von ihren Werkzeugen und als Subjekte voneinander in Arbeit und Lebensvollzug. Ein bezeichnendes, bei Giedion zitiertes Beispiel (Giedion, 1982) ist die 1783 von Oliver Evans erfundene mechanische Mühle, ehe es in Amerika überhaupt Industrie gab.

[…] Damit war der erste Entwurf eines organisierten Produktionsprozesses unter weitergehender Ausschaltung lebendiger Arbeit gelungen, also ein Akt vorgenommen, der tief in die Selbstwahrnehmung des sich in der Arbeit vergesellschaftenden Menschen einschnitt.

[…] Eine ähnliche Tendenz bildet sich in Eindringen mechanischer Bequemlichkeiten in die privaten Lebensbereiche zunächst weniger, dann vieler Gebraucher neuer Dinge ab. Auch hier verändert sich das Gegenstandsverhältnis in der technischen Substitution von Alltäglichkeiten, die einmal kooperativ in der Produktionseinheit der Familie oder darüber hinausgehend sozial vollzogen wurden. Man sieht das am Beispiel der Mechanisierung der Vorratshaltung und der Küchenarbeit. Im Vordringen neuer Werkzeuge in den privaten Haushalt ist die Auflösung jener selbstverständlichen Vertrautheit der Menschen mit den Dingen und miteinander, die Gutzkow noch als gegeben erinnert, deutlich zu spüren. Auch bei Giedion ist das eigentliche Design nicht die vergegenständlichte Gestaltungsleistung, sondern die untergründige Formtendenz in der Handhabung neuer Funktionstypen, die ihre Rolle bei der Gestaltung des industriellen Menschentypus spielen. Die Produktionsweise hat immer ihren Ausdruck am Produkt und an seinem Gebraucher gefunden. Aber nun drängt sie sich der Natur des Menschen über die Wahrnehmung und Handhabung neuer Funktionen stärker denn je als Form auf. In der Fabrik wird der Arbeitende zum abhängigen Teil der Maschine, sich selbst und anderen entfremdet. Auch in der Reproduktionssphäre wird der Gebraucher im Zuge der Mechanisierung tendenziell selbst zum Teil der mechanischen Funktionen.
Dazu kommt die Verfremdung der Gegenstände auf anderer Ebene. Die Dynamik der von Marx analysierten Warenform, in der nun alle Produkte unverkennbar auftreten, beginnt sich zu entfalten. Mechanisierung und Warenform treten gemeinsam in Aktion. Ihr Plateau sind die Weltausstellungen seit 1851.
Nun kann man von einer Psychologie des Massenprodukts sprechen. Blieben Gestaltung und Aneignung der Werkzeugformen in vorindustrieller Zeit eingebunden in ein gesellschaftliches Miteinander des Produzierens und kultureller Handlungserfahrungen, aus denen sich werkzeugliche und ästhetische Traditionen bildeten, wird die Welt der Massenprodukte zu einem eigenen System gewaltförmiger Vergesellschaftung von Wahrnehmung und Erfahrung.
Sieht man von der bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch sehr eingeschränkten sozialen Streuung des neuen Produktreichtums ab, wird die kulturell mitbestimmende Funktion des Design immer deutlicher. Wo die Gegenstände in den Vordergrund treten und mächtig werden, wird auch ihr Erscheinungsbild zwingend.
Bald sieht es so aus, als sei nicht mehr der gesellschaftliche Prozess der Zivilisation, wie ihn Elias bis in die bürgerliche Epoche verfolgt, maßgeblich für Ästhetik und Verhalten, sondern das davon losgelöste neue Ding. Es wird, neben der Arbeitswirklichkeit zum primären Ereignis kultureller Erfahrung. In Folge dieser Entwicklung tritt der Designer nicht nur als Gestalter von Produkterscheinungstypen auf, sondern auch als Entwerfer von Gesten und Haltungen bei der massenhaften Aneignung des Produkts. Das Berufsbild konstituiert sich in dem Augenblick, als der Stand der industriellen Produktivität nach einem Spezialisten der Vermittlung verlangt. Vermittlung heißt hier, Produkte in einer Weise aufzubereiten, dass sie im Sinne einer Durchsetzung industrieller Normen je nach Stand der Technologie und Produktivität funktionieren und den Habitus ihrer Gebraucher formen. Ein Techniker oder Designer handelt in diesem höheren, ihm vielleicht gar nicht voll bewussten Auftrag, selbst wenn er nur einen Staubsauger entwirft.

Autor*in

Selle, Gert

Werk

Produktform und Gesellschaft (Auszug aus: Geschichte des Design in Deutschland, Frankfurt 2007, S. 16-21)

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