[…] Fast überall in Europa schienen Unterdrückung und Bedrohung der Vergangenheit anzugehören, ließ die Freiheit auch eine gerechtere Welt erhoffen. Dies galt für die Menschen in Warschau und Paris, auch für diejenigen in Stockholm und Zürich, es galt auch, aber längst nicht mit gleicher Allgemeingültigkeit, für die Bevölkerung des ehemaligen Deutschen Reiches. Denn große Teile dieser Bevölkerung empfanden nicht Freude über die Freiheit, sondern beklagten den Verlust von Hab und Gut, waren aus ihrer gewohnten Umgebung vertrieben oder ihrer Macht-, Einfluß- und Berufspositionen enthoben. Dazu kam der Versorgungsnotstand mit Elementar-Lebensnotwendigem in den ersten Nachkriegsjahren; längst nicht alle Menschen in Deutschland erkannten, daß die Versorgung im Krieg zuvor die Ausplünderung der Unterdrückten und Vernichteten zur Voraussetzung hatte und Besatzung und Vertreibung Konsequenzen des deutschen Faschismus’ waren.
Diese allgemeinen Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland gelten auch für den Personenkreis, der die Formgestaltung im Deutschland der Aufbaujahre – das Wort Design setzt sich erst Ende der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts durch – bestimmen wird. Aber während in der Literatur etwa Exilierte und Emigrierte wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Anna Seghers recht bald einflussreich auf deutschem Gebiet wirken und leben, ist die Gestaltung der materiellen Umgebung der Menschen ein Werk der in Deutschland gebliebenen. Das verbindet sie zwar, sorgt aber auch für Spannungen und Gegnerschaften. Anpasser treffen da auf Karrieristen, Gestalter, die ideologische Freiräume nutzten und verteidigten auf solche, die Produktionsfreiräume wahrnahmen, Kaltgestellte auf Überwinterer.
Exemplarisch sei hier auf einige wenige Gestalter zumindest hingewiesen: Da sind etwa Georg Leowald und Egon Eiermann, die als Ingenieur- Architekten für Verkehrs- und Industriebauten die Moderne fortführen konnten und nun den Möbelentwurf als neues Aufgabenfeld entdecken. Da sind auch die schon in der Weimarer Republik aktiven jüngeren Werkbündler wie Wilhelm Wagenfeld, dessen Glas-Kubusgeschirr einerseits sowohl Beleg konsequent modern-modularen Entwerfens für die industrielle Serie ist, andererseits aber auch ein für das nationalsozialistische vorstellt. Gerade Wagenfelds Arbeiten für die in kriegswirtschaftlicher Sicht eher unbedeutende Glasindustrie, zeigen, wie ältere Überlegungen zur Gestaltung, die in diesem Fall am Bauhaus begründet wurden, kontinuierlich in die Nachkriegszeit überführt werden können: von Stunde Null keine Rede. Oder da ist, ebenfalls schon Ende der zwanziger Jahre dem Werkbund verbunden, Mia Seeger, die systematisch-organisierend 1927 die Stuttgarter Weißenhofsiedlung mit zum Erfolg führte und noch 1935 den neuzeitlichen Wohnbedarf gegen bäuerliche Idylle und Repräsentationsversatzstücke in einem Handbuch zusammenfaßte.
Ebenso ist die mittlere Werkbundgeneration, wenn auch Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe in die USA emigriert sind, mit dem der bekennenden Kirche verbundenen Baumeister Otto Bartning hochrangig vertreten. Da ist dann einerseits Hermann Gretsch, Entwerfer des schlichten Tischgeschirrs Arzberg-»Form 1382«, der während der Zeit des deutschen Faschismus’ in seiner Schriftenreihe Hausrat, der zu uns paßt munter die »nationale Erhebung« begrüßte und dem das Landesgewerbeamt Stuttgart 1953 seine erste Monographie widmete, und da ist andererseits Arnold Bode, der schon in der Weimarer Republik seit 1929 der Sozialdemokratie angehörte und ab 1948 mit Ernst Röttger, Hermann Mattern, Hans Leistikow, Stephan Hirzel, Hans Hillmann und Heinrich Lauterbach die Kasseler Werkakademie aufbaut. Und da ist – abseits am unsicheren Ort – auch noch ein Deserteur und abgebrochener Bildhauerstudent namens Otto (später Otl) Aicher, der zusammen mit Inge Scholl, Schwester der als Widerstandsmitgliedern ermordeten Hans und Sophie Scholl und dem Schweizer Künstler und Gestalter Max Bill die Gründung des folgenreichsten deutschen Designexperiments betreiben wird, der hfg ulm. […]