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Zur Theorie der digitalen Technologie

Während meiner Tätigkeit als Direktor im Centre Georges Pompidou in Paris hatte ich Gelegenheit, mich mit zwei bedeutenden französischen Philosophen, die sich mit dem digitalen Zeitalter befassten, auseinander zu setzen. Das sind Jean-François Lyotard, dessen Ausstellung „Les Immatèriaux“ ich begleitet habe, und Paul Virilio, mit dem ich jahrelang in der Redaktion von „Traverses“ saß. Aus ihren Gedankengängen konnte ich für meine Tätigkeit als Historiker und Kritiker wichtige Zusammenhänge erschließen […].

Lyotard sagte schon Ende der 60er Jahre, dass Standardisierung, Miniaturisierung und Kommerzialisierung von Apparaturen und Datenverarbeitung die Vorgänge des Erwerbens, des Klassifizierens und des Gebrauchs von Kenntnissen verändern werden. Er weist darauf hin, dass alles, was nicht in Maschinensprache übersetzbar ist, verkommen wird. Das Prinzip der Bildung des Geistes, und damit der gesamten Persönlichkeit, wird außer Kraft gesetzt. Der Gebrauch von Wissen, seiner Lieferanten und seiner Abnehmer nimmt Formen an, wie sie sonst zwischen Produzenten und Waren existieren. Das Wissen wird hauptsächlich produziert, um verkauft zu werden, wird deshalb zu einer neuen Art von Produktion. Ist das das Ende einer humanistischen Vision oder bedeutet es eine Chance für ein neues Zeitalter unter anderen Bedingungen?

Im Sinne Lyotards kann man annehmen, dass der Fortschritt von Wissenschaft und Technik eng verbunden ist mit dem des Wachstums der Ökonomie und der Entwicklung der politischen Macht. Er erinnert uns daran, dass das wissenschaftliche, pragmatische und technologische Wissen nicht das alleinige Wissen ist, sondern dass es noch ein „narratives“ Wissen gibt, welches eine Vielzahl von Vernetzungen mit anderen Wissensgebieten ermöglicht. In der Realität hat Design sowohl mit fortgeschrittenen Produktionsverfahren als auch mit handwerklichen Vorgängen zu tun. Darüber hinaus arbeitet der Designer auch mit individuellen Formsprachen, wie sie in der Kunst praktiziert werden.
Im postmodernen Zeitalter – in der Definition von Lyotard – können maschinelle und handgefertigte Produkte, Großserien und Einzelstücke, das Definitive mit dem Provisorischen, Realität und Virtuelles koexistieren. Ein postmodernes Design in einer Welt, die sich Produkte wünscht, mit denen die Benutzer Beziehungen nicht allein auf technischen und funktionalen Gebieten herstellen können, sondern auch auf der psychologischen, symbolischen und poetischen Ebene angesprochen werden, führt die von Lyotard „narrativ“ genannte Ebene wieder ein. Wenn Design sich in diesem Sinne komplex orientiert, so wie es das „Neue Design“ der 80er Jahre versucht hat, dann kann dieses Design nicht überholt sein, wie viele Kritiker es heute darstellen.

Man ist überrascht, sogar im Bereich des „kommerziellen Wissens“ festzustellen, dass die reichen Länder in Sachen Wissen und Forschung nicht genügend vorgesorgt haben und in diesen Bereich nicht intensiver investiert haben. Um im Designbereich zu bleiben: Es gibt an den europäischen Hochschulen kein Institut, welches kontinuierliche Forschung betreibt. Ebenso wenig gibt es Institute für Designtheorie und –geschichte. So wird die Chance verpasst, Theorie für eine innovative, unserer Zeit entsprechende Praxis fruchtbar zu machen.
Paul Virilio, der große Warner unter den Philosophen, warnt vor den Konsequenzen der oft blinden Begeisterung für neue Technologien. Er erinnert uns daran, dass der größte Teil der technologischen Innovationen im Militärbereich entwickelt wird.
Außerdem sieht er ein Problem darin, dass über das Virtuelle die Referenz zu den physischen Formen unserer Welt verlassen und durch eine Anordnung reiner Immaterialität ersetzt wird. Virilio sieht im Übergang von der Dreidimensionalität des materiellen Raums in die Zweidimensionalität des Bildschirms einen großen Verlust mit erheblichen Konsequenzen für die menschliche Wahrnehmung und die sozialen Fähigkeiten. Die Grundfrage sucht Virilio im Verhältnis von Realität und Virtualität und im Verschwinden der Aufeinanderfolge von Zeitabläufen. Die Instantaneität lässt die geografischen Entfernungen verschwinden. Bevor man einen Ort verlassen hat, ist man schon am Ziel angekommen, ohne die physikalische Dimension von Entfernung erfahren zu haben.
Es findet auch ein erheblicher Verlust des Geschichtlichen statt, denn der Blick des digitalen Zeitalters richtet sich nur nach vorn, ohne die gewonnenen Erkenntnisse aus der Vergangenheit zu berücksichtigen; die Zukunft kann nur fruchtbar gestaltet werden, wenn ihr Fundament aufgebaut ist auf der vielschichtigen Vergangenheit.
Außerdem weist Virilio auf Gefahren hin, die durch E-Kommerz oder Telearbeit am Wohnort entstehen und zur Ghettoisierung und zu sozialen Verhaltensstörungen führen. Noch gravierender erscheint ihm die E-Demokratie, denn Demokratie kann sich nur entfalten, wo Öffentlichkeit in einer offenen Debatte und Auseinandersetzung praktiziert wird.

Abschließend lässt sich zusammenfassen: Einerseits muss die Designtheorie aktualisiert werden, wobei technologische Entwicklungen und Veränderungen mit einbezogen werden müssen; andererseits muss möglich sein, eine kritische Auseinandersetzung zu führen, so wie sie von Lyotard und Virilio gemeint ist. […]

Werk

Passage aus der Laudatio für Florian A. Schmidt, gehalten von Burkhardt, François (Titel: Kritik der realen Virtualität) anlässlich der Verleihung des dritten Wilhelm Braun-Feldweg-Förderpreises für designkritische Texte in der Berliner Universität der Künste. Der Prämierte analysiert in seinem Text „Parallel-Realitäten“ gestalterische und soziale Aspekte in einer rasant gewachsenen Welt der Computerspiele. Die vollständige Rede Burkhards kann nachgelesen werden im design report, Ausgabe: 03/2007.

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