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Jugendstil

Aber, so fragt man, ist denn nicht gerade die deutsche Industrie eifrig der neuen Richtung gefolgt? Hat sie sie nicht geradezu zur Volkstümlichkeit erhoben? Haben wir nicht in Deutschland jetzt unseren Jugendstil? Also ist doch die Popularisierung der neuen Kunst durch die Industrie in weitem Maße erreicht? Ja, wir haben heute in Deutschland den Jugendstil, und er ist allerdings eine Folge der neuen Kunstbewegung. Aber leider eine solche, wie sie uns unsere schlimmsten Feinde nicht schlimmer hätten wünschen können. Hier hat sich unsere nach Neuerungen auslugende Industrie wieder einmal gründlich geirrt. Sie faßte nach dem Körper und griff den Schatten, sie wollte das Naß und erhielt den Schaum. Der Jugendstil ist eine Kunst, die nicht von Künstlern, sondern von den Musterzeichnern der Fabrikanten aus der Taufe gehoben wurde, von Jenen, die aus der Froschperspektive auf das Gebaren der Großen hinaufschauten und sich merkten, wie diese sich räusperten und spuckten. Das ahmten sie flugs nach, und wir hatten den Jugendstil. Der Ladeninhaber konnte jetzt seinen Kunden das Aller-Allerneuste, den Sezessions- und Jugendstil vorsetzen, und er tat es in besonders freudiger Erregung. Und das Publikum kaufte weiter, kaufte Vasen im Jugendstil, Nippsachen, Möbel, ja ganze Jugendstil-Zimmereinrichtungen, gerade so wie es vorher die nachgeahmten Rokokosachen gekauft hatte, oder das, was man etwa an sogenanntem englischen Stil in Deutschland hervorgebracht hatte. Im Rokokostil hatte man noch bündige Vorbilder gehabt. Es war ja zwar schwer gewesen, sich in seine leichte Grazie zu versetzen, aber wozu wäre der gelenkige Musterzeichner nicht imstande! […] Die “neuen Formen” schossen nur so hervor. Das Ornament war natürlich die Hauptsache, es ist für den Musterzeichner stets die Hauptsache, ja unter seiner Regie hat sich der ganze kunstgewerbliche Gedanke der letzten drei Jahrzehnte im Äußerlich- Ornamentalen erschöpft. Es ist dahin gekommen, daß der eigentliche Sinn des Kunstgewerbes, das Bilden, durch den falschen Sinn des Dekorierens vollständig überwuchert ist. Dekorierte man nun früher im Ornament der historischen Stile, so dekoriert man jetzt eben in diesem sogenannten neuen Ornament, das ist der ganze Unterschied. Und dieses Ornament ist danach. Überall sieht man diese Blümchen gereiht oder in verrenkten Stellungen die Flächen überdecken, wenn man nicht die kläglichen Windungen der van de Velde-Schnörkel zu betrachten gezwungen wird, die – bei van de Velde mit Verve hingesetzt und eine Bewegung ausdrückend – hier in der traurigsten Weise mißverstanden und ganz sinn- und gedankenlos hingequält sind. Die Devise “möglichst verrückt” ist dabei von früher beibehalten. Der industrielle Jugendstil ist die peinlichste Verhöhnung, die dem guten Gedanken der neuen Bewegung dargebracht werden konnte. Er ist verhängnisvoll nicht nur dadurch, daß er den Rückständigen und Mißvergnügten Gelegenheit gibt, ihre Verurteilung fälschlich auf die ganze Bewegung auszudehnen, sondern auch dadurch, daß er bei den vielen Lauen und Fernerstehenden den Eindruck schafft, als ob nun das Endergebnis der neuen Bewegung gezogen wäre, ja sich selbst als das Ergebnis aufspielt. So bringt er die Bewegung in der breitesten Breite in Mißkredit. Wie konnte der Jugendstil entstehen? Wie war es möglich, daß eine so hoffnungsreich angetretene Bewegung in dieses seichte Fahrwasser geraten konnte und auf der Sandbank einer Afterkunst scheiterte? Einmal muß man sagen, daß der Originalkunst, der Kunst der Großen, selbst ein Teil der Schuld zugeschoben werden muß. Sie wurde mit einem Krankheitskeime geboren und dieser rief dann innerhalb weniger Jahre die verheerende Seuche des Jugendstils hervor. Dieser Krankheitskeim war der übertrieben betonte Formenstandpunkt. Die kontinentale neue Kunst ging von neuen Formen aus. Man war der alten Formen müde, man haßte es, aus den Schubladen der alten Kunst weiter historische Formen herauszuziehen, wie es die Generationen vorher getan hatten. Man wollte neue Formen, solche, die mit den alten nichts mehr zu tun hätten. Jedenfalls handelte es sich vorwiegend und in erster Linie um Formen. Man vergaß über den Formen anfangs selbst ein wenig das Bilden, erst später gelangte man auf diesen springenden Punkt des ganzen Problems. Was wunder aber, wenn gleich das ganze Heer der kleinen Geister auf diesen Formenstandpunkt anbiß und ihn – natürlich in der oberflächlichsten Weise – ausbeutete. Dann aber, und das ist die wichtigere Seite der Sache, lagen die Bedingungen für das Inskrautschießen des Jugendstils doch auch entschieden in unserer Zeit und der Gesinnung unseres deutschen Publikums begründet. Und hier gilt es etwas länger zu verweilen, denn hier treffen wir den eigentlichen Krebsschaden unserer deutschen künstlerischen Zustände an. Je länger man über diese Zustände nachdenkt, um so mehr gelangt man zu der Überzeugung, daß sie von unsern allgemeinen Kulturzuständen nicht losgelöst werden können, ja sie sind eigentlich nur ein Ausfluß dieser Kulturzustände nach einer bestimmten Richtung hin. Die Kunst eines Volkes ist eine Äußerung seines Charakters. […] Handel und Industrie begannen zu blühen, ein neuer, reicher Stand mit frisch erworbenem Geld drängte sich an die Oberfläche. Selbstverständlich verlangte er bald nach seiner Kunst, denn diese sollte ihm die Fassung seines jetzt das Bequeme ermöglichenden Lebens sein. Diese Kunst mußte reich, anspruchsvoll, strotzend sein, denn es ist ein natürlicher Wunsch des Neulings, die vermeintlichen Vorteile der ungewohnten Verhältnisse mit Behagen auszukosten. Dieser traditionslose Reichtum rief zunächst die Reproduktionen der früheren aristokratischen Stile in der Innendekoration und im Mobiliar ins Leben. Er führte auch zu den prunkenden Großstadtfassaden, vor allem aber zu den überdekorierten Räumen in jeder Form und in jedem Stil, die für die letzten beiden Jahrzehnte bezeichnend geworden sind. Er wurde der Grund für den in Deutschland herrschenden Protzengeschmack. Natürlich ging es in dem Streben nach Entfaltung nicht ohne eine hochgesteigerte Rivalität ab. Das Beispiel des Reichen gab den Ansporn für den noch nicht ganz so Reichen, es ihm gleich zu tun, und dabei waren die Mittel nicht immer die gewähltesten. Er tat es mit den Surrogaten, die in der Entfaltung gerade soviel ausmachen wie die echten Sachen, und auf Entfaltung allein kam es an. So hatten wir unsere Stuck- und Papiermache-Kunst. Es war also noch nicht genug, den Protzengeschmack großgezogen zu haben, wir gelangten auch in ein völliges künstlerisches Scheinwesen. Dieses konnte jetzt deshalb um so üppiger blühen, weil der Allgemeingeschmack ohnedies im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts beinahe auf den Nullpunkt gesunken war. In dem allgemeinen Wettlauf, der jetzt in den erwerbenden Schichten eintrat, genügte dieses Scheinwesen zunächst völlig. Dadurch aber wurde eine Umbildung der sogenannten Geselligkeit überhaupt hervorgerufen, sie geriet auf der ganzen Linie ins ausgesprochen Luxuriöse. Denn es trat der merkwürdige Fall ein, daß selbst Kreise sich in den tollen Strudel ziehen ließen, die eigentlich gar kein Interesse an einer derartigen “Repräsentation” haben konnten, wenigstens kein geschäftliches. Diese Kreise waren der Beamten- und Offizierstand.

Werk

In: Technische Abende im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, 4/1917 (Königliche Hofbuchhandlung, Berlin 1917), S. 10 – 15.

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