Um die Jahrhundertwende ist die Industrialisierung, sozialutopischen Romantikern und Maschinenstürmern zum Trotz, weiter fortgeschritten, begünstigt durch eine intensiv verbesserte Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnen mit genormter Spurweite, Telefon etc.). Die lohnabhängigen Arbeiter lernen sich zu organisieren und solidarisch für ihre Rechte zu kämpfen, in Deutschland hinter der von Militarismus und Feudalismus geprägten konservativen Fassade des wilhelminischen Kaiserreichs. Auf der Suche nach einer Industrie – adäquaten Gestaltungsweise kreiert 1895 in Belgien eine Gruppe um Henry van de Velde den, wie sie es bezeichnen, Stil des kommenden Jahrhunderts, “Art Nouveau”. Im Gegensatz zu den englischen Kunstgewerbereformen wenden sie sich gegen ein historisch abgeleitetes Ornament und kämpfen für ein „neues, ein organisches Ornament“, das seine Motive der Natur entlehnt. Beherrschend sind Blätter, Ranken, Wellen etc. Fließende Formen dominieren, Eckigkeit wird bewusst vermieden. Die neue Richtung wirkt weit über Belgien hinaus.
[…] In Österreich konstituiert sich zur selben Zeit mit gleichen Zielen eine Künstlergruppe, die sich als “Wiener Sezession” bezeichnet (Josef Hoffmann, Josef Olbrich, Olto Wagner) und durch ihre Bauten und Möbelentwürfe beträchtliches Aufsehen erregt. In Deutschland wird Darmstadt zu einem Zentrum des Jugendstils, nachdem der hessische Großherzog Ernst Ludwig 1899 die “Künstlerkolonie” auf der Mathildenhöhe gegründet hat. Der geistige Kopf der Bewegung ist zweifelsohne Henry van de Velde. Im Gegensatz zu Morris liegt der Ansatz van de Veldes nicht primär im sozialkritischen Bereich. Seine zahlreichen theoretischen Beiträge kreisen, offenbar von den Anregungen der Protofunktionalisten beeinflusst, um die Relation von Gebrauchszweck und Form, wobei [er] letztlich nach wie vor der handwerklichen Tradition verhaftet bleibt. Formal unterscheiden sich die Vertreter des Jugendstils von früheren Theorien, die nachträgliche Verzierung als Maß für Produktschönheit ansehen, durch die Forderung nach einer organischen Verbindung von Ornament und Produkt (“Logische Form”). Für die industrielle Produktion erweist sich Art Nouveau als problematisch, wenngleich Einflüsse in verschiedenen Produktbereichen bis in die 20er Jahre hinein registriert werden können. Sämtliche realisierten Entwürfe van de Veldes sind, ebenso wie das Gros der bekannten Jugendstilprodukte, handwerklich gefertigt worden. Im Laufe seiner Entwicklung entfernt sich der Jugendstil von seiner ursprünglich sozialästhetischen Utopie und führt ein künstlerisches Eigenleben. Der Markt für kunsthandwerkliche Produkte zur Selbstdarstellung einer bürgerlichen Oberschicht nimmt Produkte des Art Nouveau begierig auf. Die Industrie imitiert, wie auch im Historismus, mit billigen Werkstoffen. Erst um 1907 durch die Auseinandersetzungen im Werkbund (Muthesius) beginnt van de Velde die industrielle Fertigung als jene zu akzeptieren, die das Problem einer neuen Alltagskultur in einem sozialen Sinne zu lösen vermag.