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Im Februar 1983

[…] Das Wort »wohnen« beinhaltet für mich heute den Begriff »Architektur«, der Begriff »Privatwohnung« kehrt als generierendes Element sämtlicher Aspekte des Wohnens zurück. Das Wort Inneneinrichtung taucht wieder auf und setzt sich in Kontrast zur Architektur. Einrichten ist eine natürliche Geste, bevor es zum Projekt wird. Ein gastliches, lebendiges, sorgfältiges, hermetisches Konzept mit Zwittereigenschaften. […] Die Privatwohnung als persönliche Kulisse, als letztes Symbol der eigenen Wahlfähigkeit, als Raum ohne Homogenität, als Anhäufung von Gegenständen, als Urwald, als Gewirr von Abenteuern und projektfeindlichen Leidenschaften. Sozusagen der Zauber des »weichen« Projekts gegenüber der zur Schau gestellten Sicherheit des »harten«, warnenden und demagogischen Projekts, das oft nur zustande kommt, um sich selbst und seine Regeln zu bestätigen, also zum Selbstzweck. Das harte Projekt bedient sich der klassischen Baumaterialien: Stein, Eisen, Zement, Metall, Glas. Die Essenz des weichen, zarten und sentimentalen Projekts steckt dagegen in der Einrichtung, in der schützenden und den Menschen eng umhüllenden Schale. Welches sind die Materialien für das weiche Projekt? Stoff, Farbe, Klima, Erinnerungen und Licht, die den Körper berühren und streicheln, ohne ihm weh zu tun. Also alle Gegenstände, Räume, Fassaden, Bögen, Statuen und weichen und zärtlichen Möbel. Denn Architektur besteht aus nackten und feindlichen Teilen, die von den zarten Materien gewärmt umkleidet, umschmeichelt werden und sie in den Mutterleib zurückführen. Werfen wir einmal einen Blick in eine Privatwohnung, auf die Lebensbühne beliebiger Personen. Die moderne typologische Tradition schlägt eine extreme Vereinfachung der Funktionen vor, fasst sie in Räume zusammen, die zum Kochen, Essen, Schlafen und Waschen bestimmt sind. Das ganze übrige Geflecht der anderen tausend Sinnes- und Denkfunktionen ist vergessen, verkrüppelt und erstarrt in diesem architektonischen Käfig von Vergleichswerten, der auf dem Konzept elementaren Überlebens aufgebaut ist, typisch für die Produktionsschemen und Serienstandards der zeitgenössischen Gesellschaften. Der Mensch benötigt dagegen dringend andere, subtilere Überlebensformen: Anstelle von Wohnzimmer, Küche, Bad und Schlafzimmer brauchen wir alle ganz neue Zimmer und Wohnräume: möglicherweise Räume zum Schwimmen, zum Blumenziehen, zur Nachrichtenübermittlung, zum Bücherlesen. Die Elementarprobleme können als Unterprobleme von den raffinierteren Funktionen absorbiert werden, man kann z.B. im Schwimmsaal essen, im Treibhaus kochen und sich im Nachrichtenübermittlungszimmer waschen. Das Bett, heute noch ein unbedeutendes kleines Fleckchen mit der Funktion, uns für die Tagesunternehmungen wieder fit zu machen, wird zum zentralen Gegenstand werden, zu einem delikaten Instrument, das unserer mysteriösen Lethargie und unserem langsamen Übergleiten in den ewigen Schlaf gewidmet ist, aber auch der nächtlichen Beziehungen und unserem zweiten Leben. Zugleich höchste Isolation und höchste Kommunikation. Als Ort zum Schlafen, Tolltreiben, Ausruhen, Weinen, Ort der Freude, des Halbschattens, der Instinkte, der Vorahnungen, des Imaginären wird das Schlafzimmer das traditionelle Wohnzimmer ersetzen und es in einen mythischen Ort verwandeln, einen neuartigen, meditativen, intimen und geschützten Raum, der den Mittelpunkt des Hauses bilden wird.

Grausam und völlig anders dagegen die Aussichten für Küche und Speisen. Heute wie vor Jahrhunderten ist und bleibt der Hunger in der Welt das Hauptproblem auf diesem Gebiet. So mancher ißt, um zu überleben, mancher ißt, um zu leben, mancher lebt, um zu essen und manche fressen sich tot. Hände, Schüssel, Feldküche, Plastikbecher, Kaffeemaschine, Silberteller, Anbauküche, Computerküche sind die Gegenstände im Rahmen dieses sozialen, intimen, tierischen, sinnlichen und kultivierten Schluckaktes. Aber der »Gegenstand Speise« an sich muss geographisch einen immer homogeneren Standard erreichen, wenn die Hypothese gilt, dass alle Menschen ernährungsparitätisch essen sollen. Der Nahrungsgegenstand sollte industriell beschaffen sein und Massencharakter haben, auch wenn dieser Trend zu banalen Speisen bewirken wird, dass die Speiseaufnahme als Ritus kulturell on Bedeutung verlieren wird. Und dann der menschliche Körper: heute endlich ein Gegenstand wie jeder andere, natürlich, angenehm und voller Möglichkeiten. Viele Türen, die in den Wohnungen immer sorgfältig verschlossen gehalten wurden, um beinahe illegale Handlungen zu verbergen, haben Schlüssel und Schlösser verloren. Wie neue Urmenschen kämmen sich heute Väter, Mütter, Freunde und Kinder im Wohnzimmer, waschen sich zusammen, frühstücken in nackter Runde und machen in der Küche ihre Gymnastikübungen. Von daher muß man dem Bad einen neuen Nomen geben, denn man kann den Körper nicht als neue Hauptfigur ansehen, wenn man ihn hinter verschlossenen Türen in einem engen, dunklen Kämmerchen reinigt, wo die spärlichen sanitären Geräte eher wie Folterinstrumente aussehen. In unseren zukünftigen Häusern wird es daher einen »Körperpflegeraum« geben, der so öffentlich sein wird wie die römischen Thermen und so läuternd wie die christliche Taufe, der gleichzeitig etwas von den islamischen Steinbächen und etwas von den künstlichen Grotten der Barockzeit in sich vereinigen wird. […]

Werk

In: Rolf-Peter Baacke et al: Design als Gegenstand. Der neue Glanz der Dinge. Berlin 1984, [o. S.] 88/89 (© Verlag Frölich & Kaufmann, Berlin. Wiedergabe der Textpassage mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers)

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