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Exkurs zur guten form

… Es sei an dieser Stelle ein kurzer Exkurs gestattet, der das Problem der gesellschaftlichen Rezeption der mit sozialem Elan und hohem kulturpädagogischen Ethos postulierten funktionalen und zugleich ästhetisch schönen guten Form anbelangt. So schmerzlich es für manchen Apologeten der „guten Form“ auch sein mag, man wird sich der soziologischen Erkenntnis nicht entziehen können, daß die vom Werkbund, dem Bauhaus und nach dem Zweiten Weltkrieg von der Ulmer Hochschule für Gestaltung eigentlich Adressierten, nämlich die breiten Bevölkerungsschichten (und eben nicht die zahlenmäßig relativ kleine Schicht sozio-ökonomisch Privilegierter), nur im Ausnahmefall erreicht werden konnten. Hier manifestiert sich zweifellos einer der neuralgischen Punkte der Ideologie der „guten Form“: die ästhetischen Maßstäbe einer kulturellen Elite, die sich selbst mit einem sozialethisch fundierten Erziehungsauftrag versehen hatte, wurden für verbindlich erklärt, ohne die realen Lebensbedingungen derjenigen, für die diese einfachen, schlichten, glatten, ornamentlosen, funktionsgerechten und preiswerten Dinge entworfen wurden, hinreichend zu berücksichtigen. Ein klassisches Beispiel für diese Diskrepanz sind die schon erwähnten Stahlrohrmöbel. Obwohl in den 20er und 30er Jahren in „fortschrittlich“ gesonnenen Kreisen der bürgerlichen Intelligenz zahlreich verbreitet (ihr heutiges Vorkommen in den Vorzimmern von Ärzten und Anwälten liegt auf einer anderen psychologischen Ebene und wäre eigens zu diskutieren), wurden sie von jenen, die sie wegen ihres niedrigen Preises hätten erwerben können oder sollen, Arbeitern und kleinen bis mittleren Angestellten, kaum angenommen. Selbst einem engagierten Marxisten wie Hannes Meyer oder den Vorkämpfern einer neuen, proletarischen optischen und materiellen Kultur im nachrevolutionären Rußland wie Lissitzky und Rodschenko ist es nicht gelungen, ein der Lebens- und Wunschwelt der Werktätigen adäquates Design zu schaffen, da offenbar gerade ihre symbolischen und emotionalen Bedürfnisse vernachlässigt wurden. Da sollten die Arbeiter von jetzt auf gleich einfach ein Stück ihrer Biographie, ihrer Identität aufgegeben, einer Identität, die nicht ohne intellektuelle Anmaßung als „falsch“ bzw. als „geliehen“, d. h. durch den Horizont kleinbürgerlicher Daseinsformen bestimmt, disqualifiziert wurde. Was sich seiner Intention nach als sozialer Humanismus darstellte – Schaffung einer „humanen“ gegenständlichen Umwelt als Voraussetzung für eine „neue“, humanere und sozial gerechtere Gesellschaft – erscheint nachdenklich gewordenen Designtheoretikern im Nachhinein (und erschien den Betroffenen oft schon damals) als unzumutbarer Eingriff in die sozial-kulturelle Persönlichkeit, als Vergewaltigung geradezu, gegen die man sich immer zu wehren wußte, sei es durch Verweigerung, sei es durch aktive Umgestaltung, einer speziellen Form der Aneignung, die besonders in der Architektur des Neuen Bauens beobachtbar ist (etwa Le Corbusiers Pessac, Gropius’ Dessau-Törten). Und so ist es auch nicht gerade ein Zeichen von Toleranz und Reife, wenn sich nach wie vor Designer und Designpädagogen als Sendboten der einen echten Kultur begreifen und im unerschütterlichen Bewußtsein, genau sagen zu können, was denn die “gute Form” sei, darüber mokieren, daß sich breite Bevölkerungsschichten mit “altdeutschen” Möbeln, mit „Gelsenkirchener Barock“ oder mit geblümtem „Neckermann-Design“ eindecken. – Genau an diesem Punkt wird bei der Diskussion einiger aktueller Tendenzen im Möbeldesign […] anzuknüpfen sein.

Autor*in

Wick, Rainer

Werk

Auszug aus: Rainer Wick: Das Ende des Funktionalismus: am Beispiel des Möbeldesign. In: Kunstforum international, Band 66/1983, S. 33 (mit freundlicher Genehmigung des Autors)

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