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Die gute Form

“Arzberg 1100” Schalen, Heinrich Löffelhardt (1960)
Bastian Frank, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Im Resümee zur etwa 1960 abgeschlossenen Rekonstruktionsphase Nachkriegsdeutschlands notiert der Designhistoriker Gert Selle:

»Die Gründergeneration hatte sich in den emotional ansprechenden, die produktkulturelle Vergangenheit mit der Gegenwart versöhnenden Formen des neudeutsch-amerikanischen, plastischen Stromlinienstils gerade gemütlich eingerichtet, als sich eine neue Formtendenz bemerkbar machte.«

Gert Selle

Er spielt mit dieser Äußerung auf die sog. »gute Form« an, einer nicht mehr zu negierenden Bewegung, die 1957 von Max Bill mit seinem gleichnamigen Buch angestoßen wurde. Als innovativer Trend markierte sie »deutlich einen Bruch mit der Phase des Wiederaufstiegs« und durch ihr funktionalistisch betontes Gestaltungsalphabet wurde »die vorher gültige dekorative und veraltete Stromlinienform auch rezeptionsästhetisch „unmodern“.« (Selle: Geschichte…, a.a.O., S. 186 u. 189)
Aus heutiger Distanz zeigt sich indes genauer, dass es sich angesichts der inzwischen voll ausgelasteten Produktion nicht allein um das Phänomen »einer neuen Tendenz« handeln konnte. Und so neu war sie – von ihren konzeptionellen Gedanken her betrachtet – ebenfalls nicht, denn eher handelte es sich um ein wiederbelebtes und weiterentwickeltes Konglomerat vorhandener Einflüsse, welche nun offenkundig ein wesentlich stärker betontes funktionalistisches Verständnis von Gestaltungsaufgaben in Architektur und Design propagierten. Denn bekanntlich gab es die Bekundiúngen zu klaren, »guten Formen« schon viel früher, nämlich spätestens seit Neugründung des Werkbundes 1947. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die staatliche Förderung eines »Rates für Formgebung«, der bereits zu Beginn der fünfziger Jahre (1951) seine Aufgaben wahrnahm.
Also hatte man im Prinzip schon etwa ein Jahrzehnt zuvor das zugkräftige Label eines gestalterisch qualitätvollen Industriedesigns »made in Germany« sowohl als Exportfaktor als auch zur Belebung des Binnenmarktes erkannt. Gert Selle verweist darüber hinaus auf die dahinter verborgenen Wertvorstellungen mit ihren sich daraus ergebenden produktkulturellen Codes, die auch als Absetzbewegung zum “Neo-Biedermeier” des Nationalsozialismus und den Stilirritationen der Nachkriegsphase in Erscheinung traten (Ders.: Geschichte des Design…, a.a.O., S. 182 ff.) Als legendäre Ausbildungsstätte trat ab 1953 schließlich die HfG Ulm (siehe Link in diesem Abschnitt) zusätzlich in Erscheinung, die in abgewandelter Lehrtradition sich auf die puristischen Prinzipien des Bauhauses bezog und einen inzwischen von der Wirtschaft wesentlich stärker nachgefragten Bedarf an Industrie-Designern zu befriedigen suchte.
Die von allen möglichen Vertretern propagierte »gute Form«, die sich von ihrem geschilderten Selbstverständnis offen als ideelle Gegenbewegung zum kleinbürgerlichen Ausstattungsstil (Chippendale, Gelsenkirchener Barock) und zur amerikanischen Stromlinienform verstand, begann innerhalb der inzwischen erheblich angewachsenen Produktpalette also eher als exklusive Variante unter mehreren konkurrierenden Formkonzepten zu wirken. Dass ihre Produkte dabei vorrangig den Anforderungen von Gebrauchstüchtigkeit, Dauerhaftigkeit und ästhetischen Schlichtheit verpflichtet sein sollten, versteht sich von selbst. Mies van der Rohe hatte bekanntlich noch aus dem amerikanischen Exil sein »less is more« in die Welt gesetzt, nun feierte es auf deutschem Territorium sein Comeback unter dem verwandtschaftlichen Motto »Gutes Design ist wenig Design«, allen voran Max Bill und Hans Gugelot. Wirklich dominiert haben ihre Prinzipien den deutschen Massengeschmack jedoch zu keiner Zeit.

Auch der produktionstechnische Kontext ist ein entscheidender Grund, denn die ökonomischen und technologischen Rahmenbedingungen hatten sich zwischenzeitlich erheblich verbessert. Bereits vollautomatisierte Werkzeugmaschinen, eine effektivere Arbeitsorganisation, die frühe Mitbestimmung der Arbeitnehmer und innovative Produktionsverfahren, z.B. Spritzguss oder thermische Herstellungsverfahren mit wesentlich höheren Stückzahlen, neue Materialien, wie etwa PVC-Kunststoffe, Schaumgummi, Spanplatten oder Chemiefasern, begünstigten eine Kosten sparende Herstellung beliebiger Produkte. Sie alle hatten sich obendrein in einem zunehmend härter umkämpften Markt zu behaupten, denn die stetig zugenommene Konkurrenz durch internationale Unternehmen, die mit ihren Erzeugnissen ebenfalls auf den deutschen Handelsplatz drängten, erschwerte die eigene Positionierung. Knoll International beispielsweise, ein 1938 gegründeter Design-Marktführer aus den USA, schafft es 1960 mit der Abbildung Harry Bertoias transparentem Drahtgitter-Sesser »Diamond Chair« (1952) sogar bis auf die Titelseite des SPIEGEL.
Auch das experimentierfreudige italienische Design mit erstklassigen Produkten wie den legendären Sportwagen Pininfarinas (Ferrari, Fiat, Lamborghini) oder den in Westdeutschland überaus erfolgreich verkauften, von Piaggio gebauten Motorrollern «Vespa» (Design von Corradino d’Ascanio), liefern hierzu Belege. Mit innovativen Ideen hatten sich die Italiener schon seit langem international profiliert und in vielen Marktsegmenten gaben sie unbestritten den Ton an. Böse Zungen behaupten, weniger die technische, sondern eher die hochkarätige gestalterischen Qualität und Originalität lieferte dafür den Ausschlag.
In einer ähnlichen, doch anders gearteten Rolle beeinflusst ebenso das weltweit populäre skandinavische Design mit seinen klaren Formen und Farben den deutschen Markt. Es vermittelt eine geradezu liebevolle Wertschätzung des Einzeldinges, eine gestalterische Sorgfalt, die über flüchtige Moden oder kurzlebige Stylinglösungen sichtbar hinausgeht. Wie könnte sich sonst ein Stuhl aus Formholz und dünnem Stahlrohr, wie der 1955 von Arne Jacobsen (1902-1971) für Fritz Hansen entworfene Stuhl 3107 über ein halbes Jahrhundert auf den hart umkämpften internationalen Märkten so erfolgreich behaupten? Ist dabei vielleicht doch so etwas wie zeitloses Design im Spiel? In den frühen 70er Jahren schwappt dann in Folge dieser Wertschätzung das schwedische Verkaufskonzept des blau-gelben Möbelgiganten IKEA über die Ostsee nach Deutschland. Und mit ihm eine Designvorstellung, die den Markt umkrempelt.

Autor*in

Stehr, Werner

Quellen

[1] Dieter Rams: 10 Thesen über gutes Produktdesign (2002)

Bilder:

Stereokombination „RR 126“, Brüder Castiglioni (1966)
“Brionvega Hifi” by AndyArmstrong is licensed under CC BY-SA 2.0

“Arzberg 1100” Schalen, Heinrich Löffelhardt (1960)
Bastian Frank, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

“Arzberg 2000 Krug”, Heinrich Löffelhardt (1954/55)
Bastian Frank, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

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