Die Evolution des Designs in der Gegenwart
„Design als auf das Ego angewandte Kunst erzeugt an seinem smarten Träger ein hochaktuelles Kompetenzbündel aus Tempo, Information, Ironie, Geschmack und zweiter Rücksichtslosigkeit.“
Aus: Peter Sloterdijk, Das Zeug zu Macht. Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz (2006)
„Sein heißt heute ersetzbar sein. Alles was ist, wäre auch anders möglich.“
Aus: Norbert Bolz, Absolutheitshunger, SWR II, 11.11. 2008
„Die Götter, die aus dem Himmel der Religionen verdrängt wurden, kehren als Idole des Marktes wieder. Werbung und Marketing besetzen die vakant gewordenen Stellen des Ideenhimmels. Düfte heißen Ewigkeit und Himmel, Zigaretten versprechen Freiheit und Abenteuer, Autos sichern Glück und Selbstfindung. Mit einem Wort: Marken besetzen Werte, um sie schließlich zu ersetzen.“ Der Kontext, in dem heute Künstler und Designer operieren, ist ohne Zweifel ein sehr profaner geworden: Konsum – so heißt bekanntlich die alte neue Droge, die unsere funktional differenzierte Gesellschaft vorantreibt und die ohne das Design des 20. Jahrhunderts so nicht realisierbar gewesen wäre. Die konsequente Form des Konsums ist einerseits der Tod, der „definitive Verbrauch der Dinge“ und andererseits das Begehren, immer wieder das Unterschiedliche, „Neue“, zu produzieren – hier spielte und spielt das Design eine herausragende Rolle. Ähnlich wie der Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts das paradoxe Phänomen der „personality“ kreierte, so erzeugt der Konsum die kalte Aura der Dinge – einen alles umfassenden „lifestyle“ ohne den das Design nicht zum dem geworden wäre, was es heute ist.
Während der Künstler, so Boris Groys, als ein „exklusiver Konsument anonym produzierter und in unserer Kultur immer schon zirkulierender Dinge“ auftritt, bewegt sich der Designer zwischen einem luxuriösen Innovationskult, der kritischen Kommentierung des Konsumgeschehens und dem gleichzeitigen Verlangen jenseits von diesen Wegen einen eigenen Dritten zu finden. Es stellt sich heute die Frage, wie Designer arbeiten, wenn sie die Autonomie ihrer Formen mit der kritischen Orientierung an der Konsumsphäre verbinden. Kein ganz leichtes Unterfangen: wie findet ein Gestalter seinen jeweils eigenen Nullpunkt und überschreitet er diesen? Wie unterläuft heutiges Design die heutigen „Routinen der Innovation“ (Dirk Baecker)? Wie fiktional werden heute Funktionen gestaltet und wie funktional operiert man heute innerhalb von fiktionalen Kontexten? Aus welchen Kontexten kann man ausbrechen, ohne nicht gleich in neuen eingeschlossen zu werden? Wie lassen sich heute Informationen mit Dekorationen, Nützlichkeit mit Nonchalance, Luxus mit Leichtsinn kombinieren? Wo liegt die Grenze, an der Kommunikation des Konsums in die Verwertung selbst noch einer gestalteten Null umschlägt? Liegt eine Funktion des Designs etwa in der Utopie nicht mehr produziert werden zu müssen?
Die Frage, wie sich Kunst und Design unterscheiden, ist eigentlich historisch obsolet, weil längst alle Formen von Gestaltungen funktional verwendbar sind und alle Funktionen innerhalb dieser materiellen Kontexte auch dysfunktional (irrational, subversiv, subjektiv, maßlos etc.) gestaltet werden können. Und gleichzeitig wissen wir seit Marcel Duchamps ready-mades weder genau, was wir uns unter Nicht-Kunst noch unter Nicht-Design vorstellen können. Es macht deshalb umso mehr Sinn, nach übergreifenden Problemen der beiden so unterschiedlichen Medien zu suchen. Bereits 1992 kennzeichnete Walter Grasskamp die damals sich bereits abzeichnende Dysfunktionalität des neuen Designs in Relation zum Kunstgeschehen hellsichtig und knapp: „Disfunktionalität erhöht den Ausstellungswert.“ Offensichtlich lautet das gemeinsame Problem von Kunst und Design, wie sie jeweils mit der Dysfunktionalität und Ambivalenz zwischen Kommunikation und Konsum, zwischen Funktion und Fiktion umgehen. Dysfunktional ist nicht nur ein Medium, um Aufmerksamkeit in einer Masse von ähnlichen Medien zu erregen, dysfunktional operiert der Künstler/Designer, indem er von einem scheinbar geläufigen in einen fremden, anderen Kontext springt und so einen Unterschied markiert.
Die mit dem Medium Kunst entwickelten Konzepte wie Autonomie, Wahrheit und Einmaligkeit führen heute zu der Vorstellung etwas Unbezahlbares erwerben zu können. Das neue Design unterwandert und steigert diese einseitige Spekulation, ja führt diese zu einem Nullpunkt. Wenn Design weder den Massenkonsum noch das Luxusbedürfnis einiger Weniger bedienen will, wohin genau geht dann die Reise?
Der „Nullpunkt“ des Designs beschreibt, abstrakt formuliert, eine Auseinandersetzung, indem dieser unterscheidet, wie er Altes und Neues, Funktionen und Fiktionen aufeinander bezieht und wie er formuliert, wie er den Kontext einer Gestaltung gestaltet, der seinerseits alte Formen durch neue Fiktionen ersetzt. Indem die früher funktionalen Formen mit fiktiven Formaten kombiniert werden, werden Unterscheidungen zwischen Funktionen und Fiktionen durch Formen von Dingen als hyperreale Gestaltungen ersetzt, wird die äußere Gestalt durch eine jeweils relativierende Form einer rekursiven Beobachtung ersetzt. Kontext ist jetzt das, was zwischen Formen und Funktionen sowie zwischen Dingen und Fiktionen entsteht.
Als eine hybride Form von Nicht-Kunst ist Design heute einzigartig anders und reproduzierbar – es generiert Formen, die sich aus neuartigen Formen von Kombinationen und Unterscheidungen erzeugen lassen. Design definiert sich durch seine indirekte Beziehung zur Kunst als zeitgenössische Form der Nicht-Kunst – was sie für den Kunstkontext um so attraktiver macht. Und es unterscheidet sich durch das, was es nicht mehr ist (etwa eine funktionale, angemessene, Gute Form) und was es allem Anschein nach immer mehr wird: eine Form, Unterscheidungen zu realisieren. Als Form ist das Medium Design offensichtlich dafür prädestiniert, die Vielfalt ihrer eigenen Ambivalenzen mit der Paradoxie, sich selbst als Ort von Widersprüchen zu begreifen, kombinieren zu können.
Design bezieht sich immer mehr auf eine Weise der Gestaltung, die in den Innenraum des Betrachters verlagert wird. In der Moderne will das Design „den Blick des Betrachters so gestalten, dass er fähig wird, die Dinge selbst zu entdecken.“ Das funktional orientierte Design der Moderne stellt dabei das Subjekt vor die Frage „wie es sich manifestieren will, welche Form es sich geben will, wie es sich dem Blick des Anderen präsentieren will. (…) Mit dem Tod Gottes wurde das Design Medium der Seele.“ Nicht mehr sei der Körper das Gefängnis der Seele, sondern im Design des Äußeren manifestiere sich eine Offenbarung des verborgenen Inneren, so Boris Groys. „Wo Religion war, ist Design geworden.“
So wie das moderne Design die Form der direkten Gestaltung von Objekten auf die indirekte Kommunikation zwischen Menschen und Dingen bzw. zwischen Dingen und Menschen verlagert, so erweitert die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch einen grundsätzlichen Kontextwechsel indirekt ihre ästhetische Funktion. Mit der Verschiebung einer industriell produzierten funktionalen Form in den Kunstkontext begann Marcel Duchamp zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Medium Kunst zu unterwandern und den unbekannten Kontinent der Nichtkunst zu markieren. Das ready-made ist bis heute das einflussreichste Nullpunktmedium des 20. Jahrhunderts.
Kunst und Design sind bekanntlich seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts keine realen Gegensätze mehr, sondern spiegeln eher ein Steigerungsverhältnis zwischen diesen historischen Bezugsgrößen. Bestimmte Dinge der Kunst – man denke etwa an einen Regenschirm, eine Pfeife oder eine Brillo-Box – sind Objekte, die wir beobachten, weil sie neuartige Relationen zwischen Kunst und Leben stiften; die Gegenstände des Designs sind Formen, die wir rekursiv auf uns beziehen, weil wir sie unter anderem auch real nutzen oder nicht nutzen können. Claes Oldenburgs legendäres „Bedroom ensemble, Replica I“ (1969), aber auch die irritierenden Möbel-Skulpturen eines Franz West oder funktionalen Fiktionen eines Richard Artschwager schaffen für die Betrachter Einblicke in ein Ambiente, dass die Wohnung zu einem Ort anonymer Unwirklichkeit verwandelt. Design funktioniert heute gerade im Kunstkontext, indem sie unsere tradierten Vorstellungen von Authentizität und Autonomie unterwandert; Kunst wird zu einem Effekt ihrer Beobachtung, in der „Gestaltung“ plötzlich einen anderen Stellenwert erhält.
Der Schnittpunkt, an dem heute beiden Größen aufeinander treffen, ist heute – kalt und abstrakt gesagt – ein noch zu formulierender Kontext. Nicht mehr aber auch nicht weniger. Das Kombinieren von scheinbar Unvereinbarem (etwa von Formen und Fiktionen), das Austauschen von Funktionen und das Modellieren mit selbst Nicht-Sichtbarem verweisen darauf, dass buchstäblich alles und jederzeit als veränderbar definiert wird. Nichts veraltet so schnell wie die „finale Version“, an der heutige Bild- und Textproduzenten gerade basteln. Die Schere zwischen dem Faktischen und dem Veränderbaren öffnet sich und die wechselseitige Veränderung beider Größen – in diesem Fall Kunst und Design – wird zum eigentlichen Thema und Programm, dass sich ereignet und das nicht nur betrachtet, sondern auch gelebt und gestaltet werden will. Auf diese Weise werden auch das Museum und die Galerie neu definiert: nicht mehr ortsgebundene specific objects stehen im Raum, sondern vor allem diverse Optionen, die das Betrachten und das Kombinieren, das Bewerten und Vergleichen von Relationen unerwartet und anders als geplant aufeinander beziehen. Wo so die früheren funktionalen Maßstäbe und Methoden des Designs wegbrechen, eröffnen sich neue Räume der Selbsterkundung. Zwischen den Oberflächen von Objekten und den Kompetenzen von Autoren und Betrachtern kommt es zu einem tendenziell endlosen Redesign – eine historische Tatsache, die das Design bis heute vorantreibt. Form follows future – auch und gerade wenn diese noch nicht eingetroffen ist.
Design verkörpert eine imaginäre black box, die uns, wie Peter Sloterdijk in seinem Essay “Das Zeug zur Macht (2006)” vorausschauend formulierte, eine „gekonnte Abwicklung des Nicht-Gekonnten“ vorgaukelt, aber auch und vor allem eine vielfach spiegelnde (Benutzer-)Oberfläche, die uns irritiert, weil sie etwas ankündigt, was unser Verhältnis zu den Objekten und damit auch zu uns selbst reflektiert. Die gleichsam automatisch sich vollziehende, evolutionäre Selbstorganisation wird heute zu einem herrschenden Paradigma. Das postmoderne Design, so der Philosoph und Medientheoretiker Nobert Bolz in seinem Band BANG DESIGN. Design-manifest des 21. Jahrhunderts, setze nicht mehr „am Objekt, sondern an den Emotionen an. Die Form folgt dem Gefühl des Konsumenten, nicht der Funktion der Sache.“ Design ist offensichtlich ein zentrales, Idenität schaffendes Medium unter vielen anderen anonymen Medien der Darstellung geworden. „Das Neue ist das Gegenteil dessen, was jetzt gilt“ formulierte Beat Wyss anlässlich der Documenta 12 den Innovationszwang der westlichen Kunstevolution. Das Veränderbare ist das Medium der Beobachtung im Medium des immer noch Formbaren – könnte man entsprechend für den Kontext der Designevolution schlussfolgern.
Ohne Zweifel verändert das Design der Dinge, wie es sich uns in virtuellen Oberflächen und realen Kunstlandschaften präsentiert, unseren Umgang mit den Dingen und unseren Umgang mit uns selbst. Da das heutige Ich zunehmend mit und durch Apparate kommuniziert und „in Echtzeit Entscheidungen treffen“ muss, verliert das Selbst seine eindeutige Identität und gerät in die endlosen Schleifen elektronischer „Selbstinformierung“.
Wenn, wie in der Moderne, die Kopie der Kopie als Bild eines reproduzierten Originals erscheint, verlieren beide Grössen ihre historische Aussagekraft. Die Aura des Einmaligen, von der Walter Benjamin noch träumte, ist heute höchstens noch in speichbaren Dateien präsent. Design als eine grundsätzlich alles reproduzierende Form und Formel ist heute Bestandteil eines Kontextes, der selbst das alte Medium Kunst einschließt; als digital berechenbare Information und als unberechenbares offenes Muster entdeckt heute Design ihre eigene Evolution – und eine Form des Versprechens. Das Kunstwerk, schreibt Niklas Luhmann in seinem 1986 veröffentlichten Aufsatz „Das Medium der Kunst“, „muß etwas sein, was es nicht bleiben kann, und entsprechend muss der soziale Kontext der Kunst reorganisiert werden.“
Auf dem Meer der Möglichkeiten wird jeder – und nicht nur der Künstler/Designer – immer irgendwann seine eigene Welle finden, die ihm neuen Auftrieb verleiht.