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Bildende Kunst und Industrieform (1926)

[…] Die freie künstlerische Betätigung hat nie mehr die Bedeutung, die sie während der ersten Jahre des Bauhauses hatte, erreicht, sie wurde mehr und mehr zu einem Randphänomen der Bauhausarbeit.
Die enge Verbindung moderner bildender Kunst – insbesondere der Malerei – mit der technischen Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert scheint nach einer außerordentlich bedeutungsvollen Zeit schöpferischen Austauschs auf geistig durchaus polar gelagerten Gebieten mit überraschender Konsequenz zur gegenseitigen Abstoßung führen zu müssen. Die Illusion, daß die bildende Kunst in der schöpferischen Art technischer Formgestaltung aufzugehen hätte, zerschellt in dem Augenblick, in dem sie die Grenze der konkreten Wirklichkeit erreicht. Die mit imposant eindeutiger Geste aus der künstlerischen Utopie in das verheißene Gebiet der technischen Gestaltung herausgeführte abstrakte Malerei scheint ganz plötzlich ihre vorausgesagte Bedeutung als formbestimmendes Element zu verlieren, weil die Formgestaltung des mit technischen Mitteln erzeugten Industrieproduktes sich nach einer Gesetzmäßigkeit vollzieht, die nicht von den bildenden Künsten abgeleitet werden kann. Es zeigt sich, daß die technisch-industrielle Entwicklungsfolge auch in Bezug auf die Formgestaltung absolut eigenartig ist.

Der Versuch, die technische Produktion mit den bildnerischen Gesetzen im Sinne der abstrakten Gestaltung zu durchdringen, hat zu einem neuen Stil geführt, in dem das Ornament als unzeitgemäße Ausdrucksform vergangener Handwerkskulturen keine Anwendung findet, der aber trotzdem dekorativ bleibt. Einen nur dekorativen Stil glaubte man aber gerade vermeiden zu können, weil die besondere Art der schöpferischen Erforschung elementarer Formgesetze durch die abstrakte Malerei diese Gesetze nicht nur in Bezug auf die bildende Kunst, sondern gerade in ihrer allgemein gültigen Bedeutung aufgedeckt zu haben schien.
Die Begeisterung für die Technik wurde außerdem so groß, daß der Künstler mit erkenntnistheoretischen – oft allzu logischen – Argumenten sich selbst verneinte. Das Quadrat wurde letztes Bildelement für die überflüssige – für die sterbende – Malerei. Es wurde zum genialischen und wirksamen Dokument des Bekenntnisses zur funktionellen Gestaltung im Sinne rein konstruktiver Formgebung. Es wurde zum bösen Blick gegen die Geister der Vergangenheit, die die Kunst der Kunst halber liebten. Die Abkehr von der Kunst allein schien vor dem Schicksal zu schützen: Künstler in einer Zeit zu sein, die nur Ingenieure braucht.
Es entstand eine Ästhetik, die im Rausch der Begeisterung für eine neue Gestaltung eine groß angelegte Theorie entwickelte, die der Kunst gegenüber außerordentlich intolerant ist, weil sie durch eine konkrete Zielsetzung den Anschein der praktischen Brauchbarkeit erwecken muß. Aber es scheint, als ob die Kunst auch nach ihrer Auflösung bis in ihre an und für sich kunstlosen Elemente aus Überfluß an Reichtum dort nicht entstehen kann, wo das Gesetz der zweckmäßigen Beschränkung zu übertreten unverantwortliche Verschwendung ist: in der Industrie und Technik. Solange der Ingenieur in der Stillehre vergangener Handwerkskulturen befangen war, blieb das technische Erzeugnis minderwertig in Bezug auf die formale Gestaltung. Die kunstgewerbliche Schmuckverbrämung besserte nichts, und auch die Gestaltung nach der konstruktiven Gesetzmäßigkeit – die auf eine so außerordentlich geistvolle und konsequente Art aus der abstrakten Malerei abgeleitet wurde – findet eine berechtigte Anwendung nur dort, wo der Produktionsprozeß noch nicht oder noch nicht ganz modernisiert ist: In der Architektur und einigen anderen Grenzgebieten.
So wurde eine Architektur, die ihrem formalen Aussehen überraschend zeitgemäß wirkt – obwohl sie in ihrem technischen Aufbau noch veraltet bleiben muß, weil der Ingenieur das Problem des Wohnhausbaues in seiner Ganzheit noch nicht zu seinem eigenen gemacht hat. […] Das formale Idiom des modernen Architekten wurde die Gerade – vor allem in ihrer horizontal-vertikalen Beziehung und in der Mannigfaltigkeit ihrer statisch- dynamischen Anwendung bei Raumgestaltungen. Dieser stark gespannte Kontrast schien gleichzeitig die Ausdrucksform für das neue Stilempfinden als auch die für den maschinellen Produktionsvorgang geeignete Grundform zu sein. – Ein Irrtum!
Die Industrieform entsteht im Gegensatz zur Kunstform überindividuell als Ergebnis einer objektiven Problemstellung. Die Argumente der Zweckmäßigkeit und der technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Rentabilität werden zu Formbildnern eines in seiner Art erstmaligen Schönheitsbegriffes. Erfinderische Genialität und kommerzieller Konkurrenzgeist werden zu schöpferischen Faktoren. Ein Zeitalter – das “technische Zeitalter” – will sich vollenden.
Die vorausgegangene Durchdringung von bildender Kunst und Technik war ein Moment von höchster Bedeutung. Er befreite die Technik von der letzten Bindung an eine veraltete Ästhetik, indem die Kunst ad absurdum geführt wurde, um nun darüber hinaus in der Unbegrenztheit der eigenen Wirklichkeit sich neu zu finden. Die Kunst kann nicht zweckgebunden sein. Kunst und Technik sind nicht eine neue Einheit, sie bleiben in ihrem schöpferischen Wert wesensverschieden. Die Grenzen der Technik sind durch die Wirklichkeit bestimmt, die Kunst kann nicht anders als in der ideellen Zielsetzung zu ihrem Wert gelangen. In ihrem Bereich koinzidieren die Gegensätze. Sie entsteht fern von jeder technischen Bindung in der Utopie ihrer eigenen Wirklichkeit. Das künstlerische Formelement ist ein Fremdkörper im Industrieprodukt. Die technische Bindung macht die Kunst zu einem nutzlosen Etwas – die Kunst, die allein über die Grenze des Gedankens hinaus zur Größe schöpferischer Ungebundenheit einen Ausblick geben kann.

Autor*in

Muche, Georg

Werk

auch zitiert in: Hans M. Wingler: Das Bauhaus 1926-1933. Weimar, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937. Köln 1962 , S. 123/124

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