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Art Deco und ›Stil um 1930‹

[…] Ab Mitte der ›Goldenen Zwanziger‹ war dies vor allem Art Deco, ein neben der Bauhausform und gelegentlich in sie hineinwirkender Dekorationsstil, der in Frankreich und USA auf der Basis bürgerlicher Bedürfnisse nach einer ›modernen‹ Formensprache und auf der Basis entsprechender Kaufkraft entwickelt worden war. (Die Bezeichnung Art Deco fand man erst anläßlich der retrospektiven Ausstellung “Les Annees 25” im Pariser Museum für Dekorative Kunst 1966.) Die ersten Art Deco- Produkte waren kunsthandwerkliche Luxusgegenstände für den Einrichtungsbedarf reicher Leute. Der sehnsüchtige Blick des Massenkonsumenten nach oben wurde aber bald durch industriell reproduzierte Abwandlungen dieses elitären Stils belohnt, der nicht so karg und sachlich wie die Bauhausform war, sondern den Abglanz von Individualität zurückwarf und zugleich den Anschein einer Teilhabe am modernen Warenreichtum und an der ›höheren‹ Kultur erweckte. Art Deco-Formen, ästhetisch ebenso nostalgisch und materiell ebenso billig produziert wie die Formen des Industriejugendstils vor 1914, erlaubten wieder besondere Identifikation.
Wie der kommerzialisierte Jugendstil gewann das industriell popularisierte Art Deco die Bedeutung eines Warenstils mit gesellschaftlichen Funktionen weitab von jeder Vorstellung einer klassenlosen Produktkultur. Die schon in diesem neuen Industriestil sich ankündigende Ästhetisierung des Lebenszusammenhangs und der Konsumsehnsüchte bestimmter Schichten hatte sehr wahrscheinlich eine entpolitisierende Wirkung und war insofern geeignet, ein Bewußtsein ausformen zu helfen, das dann 1933 von der nationalsozialistischen Ideologie gezielt angesprochen werden konnte. Der Funktionalist Le Corbusier hatte 1925 die Pariser »Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels Modernes«, die zum ersten Mal die Leitbilder dieses Warenstils zeigte, nicht zu Unrecht kritisiert.
Für den deutschen Massenkonsumenten waren es aber weniger die Vorbilder des französischen Stils, der in der Republik bis 1925 und darüber hinaus kaum rezipiert werden konnte, als die amerikanischen Ableitungsformen des Art Deco, die ins Bewußtsein drangen. Wahrscheinlich hat sich durch die französische Stilbezeichnung und durch die Retrospektiv- Ausstellung von 1966 ein rezeptionsgeschichtliches Mißverständnis ergeben. Denn die amerikanische Warenästhetik mußte – von der kantigen Art Deco-Form bis zum anschließenden Stromlinien-Styling – den deutschen Markt viel stärker beeinflussen als dies beispielsweise die französischen oder englischen Quellen vermochten. Der Anpassungsdruck an die amerikanische Warenkultur war ökonomisch begründet.
Diese vorbildhafte Warenkultur wurde gleichsam im Kielwasser der internationalen Expansion des amerikanischen Kapitals nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. Abendroth, 1965) hereingespült. Amerikanische Firmen investierten in Deutschland oder beteiligten sich an deutschen Unternehmen wie bei Opel. Ford brachte es fertig, innerhalb eines halben Jahres 1930/31 in Köln eine große Fabrik bauen zu lassen und die Produktion aufzunehmen. Der Import von Kapital und Rationalisierungsmethoden zog den Import kultureller Leitbilder nach sich. Mit den variablen Ableitungen des Art Deco wurde lediglich der Anfang gemacht; amerikanische Produktvorbilder und amerikanischer Lebensstil beeinflußten schließlich das alltagskulturelle großstädtische Erscheinungsbild der Republik. Das Automobil, die Schiffstouristik und das Flugabenteuer wurden zu Versatzstücken eines großen, nur von wenigen sozial Auserwählten realisierten Konsumtraums, der die kulturelle Erwartungshaltung und das ideologisierte Bewußtsein großer Teile der im engeren Sinne nichtproletarischen Bevölkerungsschichten erfaßt hatte. […]

Autor*in

Selle, Gert

Werk

In: Ders.: Die Geschichte des Design in Deutschland von 1870 bis heute. Entwicklung der industriellen Produktkultur. Köln 1978, S. 131 f. Mit freundlicher Genehmigung des Autors

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