Von ihren ästhetischen Ausdrucksformen her betrachtet, lassen sich weder die Architektur noch die Industrie- und Gebrauchsgüter der späten zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre unter nur einer Gestaltungsrichtung erfassen. Allzu vielfältig sind stilistische Merkmale und formale Andeutungen, »der Charakter des (…) als Art déco bezeichneten Stils bleibt hybrid und verschwommen, drückt er doch 20 der bewegtesten und zwiespältigen Jahre dieses Jahrhunderts aus«, notiert der italienische Designtheoretiker Christian Galli.
Begleitet von turbulenten politischen und sozialen Verwerfungen nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs (Radikalisierung in der Spätphase der Weimarer Republik, Wirtschaftsboom in der »Goldenen Zwanzigern«, Weltwirtschaftskrise 1928, Anstieg der Massenarbeitslosigkeit, Kaufzurückhaltung der Bevölkerung etc.) können sich weder die Vertreter der propagierten funktionalen Gebrauchsform (Werkbund, De Stijl, russische Avantgarde, Bauhaus), noch die von vermeintlich »besseren Kreisen« gepriesene dekorative Ornamentik als bestimmende Form durchsetzen. Doch verlangten die neu aufgekommenen Käufergruppen, wie die aufstrebenden und nach eigenem Ausdruck suchenden Angestellten, nach charakterisierenden Gegenständen und Attributen, der sich von den marktgängigen Angeboten unterscheiden sollten. Siegfried Kracauer hatte bereits 1930 eine scharfsinnige soziologische Analyse zum neuartigen Habitus der Angestellten beigesteuert. Nach seiner Auffassung eroberte lediglich ein modisch übermütiger, konsumbegeisterter Lebensstil die Großstädte der Welt, der aufgrund seiner flachen Leichtlebigkeit offensichtlich den eher rationalistisch angelegten Prinzipien der klassischen Moderne mit klaren Gestaltungsregeln und sozialpolitischen Vorstellungen zuwiderlief. Anschaulich spiegeln die kühl-erotischen Art Déco- Bilder von Tamara de Lempicka (1898-1980) mit ihren glamourösen Frauenfiguren jenen nonkonformistischen Zeitgeist, den man später als die »Goldenen Zwanziger« etikettierte. Mondän gekleidet und lässig im Bugatti sitzend, fixieren diese Femmes fatales den Betrachter mit vieldeutiger Miene. Sind sie vielleicht inmitten ihrer Statussymbole nur männliche Wunschbilder? »Die Goldenen Zwanziger«, berichtet Charlotte Seeling so treffend schön, »- das waren Jazz und Charleston, Bubikopf und rote Lippen, freie Liebe und Zigaretten, Geburtenkontrolle und kurze Röcke und am Ende die große Depression. So jedenfalls sind sie im kollektiven Gedächtnis gespeichert. In Wirklichkeit dauerten die »années folles« nur knapp fünf Jahre, (…) aber in dieser kurzen Zeit wurde dafür doppelt gelebt.«
Unter folgenden Links sind Bilder von Tamara de Lempicka zu finden:
http://en.wikipedia.org/wiki/Tamara_de_Lempicka >> [1]
http://www.tamara-de-lempicka.org/Self-Portrait-in-the Green-Bugatti.html >> [2]
Allzu gern greifen die modehungrigen Konsumenten auf die neuartigen, in ihrer Eleganz für sich sprechenden Artikel zurück, die seit der Weltausstellung der Dekorativen Künste 1925 in Paris (Exposition International des Arts Décoratifs et Industriels Modernes) weltweit für Furore sorgten. Die Ausstellung huldigte keineswegs nur verdeckt dem Wiederaufleben handwerklicher Traditionen, in denen das luxuriöse Einzelstück die Aufmerksamkeit auf sich ziehen sollte. Meist handelte es sich um kunstvoll gefertigte Unikate wie mondäne Accessoires oder exklusive Einrichtungsgegenstände, die im Nachklang von Paris – gewollt oder ungewollt – die Modelle für Imitationen lieferten. Denn nach ihrem Pariser Debüt wurden die Modeartikel und Objekte überall auf der Welt fabriziert, – angesiedelt zwischen handwerklich perfektem Duplikat und billigem Kaufhaus. In den spektakulären Marktgalerien (z. B. den Galeries Lafayette in Paris, dem Warenhaus Tietz in Berlin oder der Galleria Vittorio Emanuele II in Mailand) wurden die gern als Einzelstück deklarierten Produkte unters Volk gebracht. Art déco-Gegenstände eigneten sich vorzüglich, um den propagierten Habitus von Weltoffenheit und ästhetischer Differenz zum Gebräuchlichen zu demonstrieren. Die passenden Gelegenheiten zur Selbstinszenierung bieten die überall entstandenen vornehmen Boulevards mit ihren Schaufenstern, Cafees, Flaniermeilen und Promenaden. Das urbane Nachtleben mit seinen Leuchtreklamen zieht die lebenslustigen Nachtschwärmer an wie das Laternenlicht die Motten. Zum Vergnügen und zur Zerstreuung sind aber auch die aufstrebenden Kinopaläste, Varietés, intime Theater, schummrige Jazzclubs oder die berüchtigten Tangobars en vogue. Der moderne Impuls aus Paris wird besonders auch in den fortschrittsbegeisterten Vereinigten Staaten aufgegriffen und weiterentwickelt in Architektur (z.B. im Chrysler-Building von William van Alen 1930), Interiordesign oder den eleganten Gebrauchsgütern, die häufig aus kostbaren Materialien wie Elfenbein oder Edelstahl, später aber auch aus Aluminium oder Bakelit, dem mystisch dunklen Pionier unter den Kunststoffen, fabriziert sind. Der Art déco-Stil versteht sich zwar auch hier als aufmüpfiger Gegenentwurf zur klassischen Moderne, die sich ebenso wie in Europa der Massenproduktion verschrieben hatte, kann sich aber auch dort nicht dauerhaft etablieren. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass trotz der offensichtlichen »Vermassung des Stils« (Christian Galli) die breiten deutschen Käuferschichten in ihren Produktwünschen eher zurückhaltend bleiben, also beim gewohnt Kleinbürgerlich-soliden und eher Unauffälligen. Allen progressiven Experimenten zum Trotz verhält man sich lieber reserviert. Und angesichts der nicht zu übersehenden sozialen Probleme in den Zwanzigern sind die saftigen Preise des gehobenen Pariser Chic für die meisten Menschen ohnehin unerschwinglich. So recht identifizieren kann man sich mit der expressiv-dünkelhaften Eleganz oder technoiden Formensprache ohnehin nicht (siehe unter den Klassikern Le Corbusiers »Chaise longue« von 1928). Den Widersprüchen in Kunst und Kultur vergleichbar bleiben die kulturgeschichtlich bedeutsamen Produkte des Designs um 1930 also widersprüchlich. Als historisch bemerkenswerte und für die Folgezeit prägende Gestaltungsrichtung kann das Art déco nicht darüber hinweg täuschen, dass es letzten Endes nur eine relativ kleine gesellschaftliche Gruppe war, welche die Produkte für sich in Anspruch nahm. So unsicher wie die allgemeinen gesellschaftlichen Zustände sich darstellten, ist der unentschlossene Stil jener Zeit, vor seiner Einebnung in die nationalsozialistische Ideologie, auch »als Vorbote faschistischer Alltagskultur« (Gert Selle) charakterisiert worden.