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Kunde von Nirgendwo (1914)

Die folgende, leicht gekürzte Passage ist dem 15. Kapitel »Über den fehlenden Reiz zur Arbeit in der kommunistischen Gesellschaft« entnommen.

»Es [ist] ein natürliches Verlangen […], nicht zu arbeiten.«
»Ja, ja«, erwiderte er, »ich kenne diese alte Plattheit – sie ist gänzlich unwahr und für uns in der Tat ganz sinnlos. […] «
»Warum für Sie ganz sinnlos?« fragte ich.
Er antwortete: »Weil damit gesagt ist, daß alle Arbeit Plage sei; und wir sind von diesem Gedanken so weit entfernt, daß bei uns, die wir, wie Sie bemerkt haben werden, recht wohlhabend sind, schon die Besorgnis aufgestiegen ist, eines Tags könnten wir zu wenig Arbeit haben. Die Arbeit ist ein Vergnügen, welches wir zu verlieren fürchten, und nicht eine Plage.«

»Ja«, sagte ich, »ich habe so etwas bemerkt und wollte Sie auch darüber befragen, vorher wünsche ich aber näheres über die Gründe zu hören, warum bei Ihnen die Arbeit ein Vergnügen ist?«
»Weil alle Arbeit jetzt anziehend ist. Dies kommt entweder von der Hoffnung auf Gewinn an Ehre und Wohlbefinden, mit welcher die Arbeit verrichtet wird und welche angenehme Empfindungen erweckt, selbst wenn die augenblickliche Arbeit nicht angenehm sein sollte; oder es hat seinen Grund darin, daß die Arbeit zu einer angenehmen Gewohnheit wurde, wie z. B. in dem Fall der sogenannten mechanischen Arbeit; und schließlich liegt das Vergnügen (und der größte Teil unserer Arbeit gehört hierher) in der Arbeit selbst, weil unsere Arbeit Kunst, bewußte, echte Kunst ist und von Künstlern verrichtet wird.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Können Sie mir nun erklären, wie Sie zu diesem glücklichen Zustand gelangt sind? Denn offen gesagt, diese Änderung in den Verhältnissen der alten Welt scheint mir größer und bedeutender als jede andere Veränderung, von der Sie mir in bezug auf Politik, Verbrechen, Eigentum und Ehe erzählt haben.«
»Darin haben Sie recht«, erwiderte er. »In der Tat, Sie können sogar sagen, daß diese Veränderung alle anderen erst ermöglicht hat.«
»Wollen Sie mir nicht mehr darüber sagen?« fragte ich.
»Gerade dieser Gegenstand interessiert mich aufs lebhafteste.«
»Das will ich gern tun«, sagte er, »damit ich es aber kann, muß ich Ihre Geduld einigermaßen in Anspruch nehmen und etwas von der Vergangenheit sprechen. Der Gegensatz, die Gegenüberstellung ist zu dieser Erläuterung nötig. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie langweilen werde?«
»Nein, nein!« rief ich aus.
Danach setzte er sich wieder behaglich auf seinem Stuhl zurecht und hub an: »Nach allem, was wir hören und lesen, ist es klar, daß die Menschen in der letzten Periode der Zivilisation in Bezug auf die Erzeugung der Waren in einen cercle vicieux – einen Kreis, aus dem nicht herauszukommen ist – geraten waren. Sie hatten es zu einer wunderbaren Fertigkeit in der Warenerzeugung gebracht, und um diese Fertigkeit möglichst auszunutzen, hatten sie ein sehr fein ausgearbeitetes System des Kaufs und Verkaufs geschaffen — oder vielmehr sich entwickeln lassen -, welches man den Weltmarkt nannte, und dieser Weltmarkt, einmal in Gang, zwang sie, immer mehr von diesen Waren zu erzeugen, einerlei, ob sie gebraucht wurden oder nicht. Und während sie sich der Arbeit für die wirklich notwendigen Dinge natürlich nicht entziehen konnten, kam es auf diese Weise, daß sie eine endlose Menge nicht notwendiger Dinge schufen, die unter der eisernen Herrschaft des sogenannten Weltmarkts für sie gleiche Wichtigkeit erlangten wie die wirklich notwendigen Dinge, welche das Leben erhalten. Durch dies alles überbürdeten sich die Leute mit einer ungeheuren Masse von Arbeit, nur um ihr elendes System im Gang zu erhalten.«
»Ja, und dann?« fragte ich.
»Nun — da sie sich den Zwang auferlegt hatten, unter der furchtbaren Last unnötiger Warenerzeugung zu keuchen, so wurde es ihnen unmöglich, die Arbeit und deren Früchte von einem anderen Gesichtspunkte zu betrachten als von einem — nämlich dem des unaufhörlichen Bestrebens, möglichst wenig Arbeit auf die Anfertigung jedes Gegenstandes zu verwenden und doch zugleich so viele Gegenstände wie möglich herzustellen. Diesem Herabdrücken der Produktionskosten, wie man es nannte, wurde alles geopfert, die Freude des Arbeiters an seiner Arbeit — und mehr als das, seine bescheidensten Bedürfnisse, seine Gesundheit, seine Nahrung und Kleidung, seine Wohnung, seine Muße, sein Vergnügen, seine Erziehung – kurz sein Leben — alles hatte nicht den Wert eines Sandkorns gegenüber der Notwendigkeit ›billiger‹ Erzeugung von Dingen, die zum großen Teil überhaupt nicht wert waren, erzeugt zu werden. Ja — man erzählt uns und wir müssen es glauben, so überwältigend sind die Beweise, obgleich viele von uns es kaum glauben können — daß selbst reiche und mächtige Leute, die Herren der vorerwähnten armen Teufel, sich dazu verstanden, selber inmitten von Szenen des Elends, in Schmutz, Gestank und allen möglichen Greueln zu leben — welche der Mensch doch seiner Natur nach verabscheut und flieht -, bloß damit ihr Reichtum dieses System unbegreiflicher Verrücktheit aufrechterhalte. Das ganze Gemeinwesen wurde dem gefräßigen Ungeheuer: >billige Warenerzeugung<, die ihm durch den Weltmarkt aufgezwungen war, in den Rachen geworfen.«
»Wie stand es aber mit der Qualität der Waren, die für den Weltmarkt erzeugt wurden? Man sollte doch denken, daß Völker, die sich so gut darauf verstanden, Güter zu machen, sie doch gewiß auch gut machten.« »Qualität!« sagte der alte Mann, »wie konnten die Leute sich um solche Kleinigkeiten, wie die Qualität der Waren, die sie verkaufen, bekümmern. Die besten ihrer Waren waren niedrige Durchschnittswaren, die schlechtesten erbärmliche Notbehelfe für Dinge, die gebraucht wurden – Schund, mit dem niemand zufrieden gewesen wäre, wenn man Besseres hätte haben können. Es war damals ein gewöhnlicher Scherz zu sagen: die Waren sind zum Verkauf und nicht zum Gebrauch gemacht — ein Scherz —, den Sie, weil Sie von einem andern Planeten kommen, verstehen mögen, den aber unsere Leute nicht verstehen.«
»Wie«, sagte ich, »machte das Volk der ›Zivilisation‹, was es machte, nicht gut? «
»Oh ja«, erwiderte er, »es gab eine Art von Gütern, die man damals in allen Teilen gut machte, und das waren die Maschinen, die man zur Anfertigung der Dinge brauchte. Sie waren vollendete Meisterstücke und ihrem Zwecke bewundernswert entsprechend, so daß man mit Recht sagen kann, die größte Tat des neunzehnten Jahrhunderts war die Anfertigung von Maschinen, die wahre Wunder der Erfindungskraft, Geschicklichkeit und Geduld waren, aber nur zur Herstellung ungeheurer Massen wertloser Gegenstände gebraucht wurden. In Wahrheit betrachteten die Eigentümer der Maschinen nichts von dem, was diese machten, als Gebrauchsgegenstand, sondern nur als Mittel, sich selbst zu bereichern. Natürlich war die einzige Probe für die Nützlichkeit der Waren die: Käufer für dieselben zu finden — Kluge oder Dumme —, wie es sich fügte.«
»Und die Leute ließen sich das gefallen?«
»Eine Zeitlang.«
»Und dann?«
»Und dann kam der Umsturz«, sagte lächelnd der alte Mann, »und dem neunzehnten Jahrhundert erging es wie einem Mann, der, während er sich badete, seine Kleider verloren hat und nackt durch die Stadt gehen muß.« »Sie sind sehr erbittert auf das neunzehnte Jahrhundert«, sagte ich.
»Natürlich«, antwortete er, »da ich so viel darüber weiß.«
Er schwieg eine Weile und sagte dann: »In unserer Familie haben wir Sagen, — nein, wirkliche Geschichten, betreffend jenes Zeitalter — mein Großvater war eines der Opfer. Wenn Sie das neunzehnte Jahrhundert einigermaßen kennen, dann werden Sie verstehen, was er zu leiden hatte, wenn ich Ihnen sage, daß er damals ein wirklicher Künstler, ein Mann von Genie und ein Revolutionär war.«
»Ich glaube, Sie zu verstehen«, sagte ich, »nun aber scheint’s, daß Sie alles dies umgekehrt haben.«
»Fast ganz«, erwiderte er. »Die Gegenstände, die wir verfertigen, werden gemacht, weil wir sie brauchen; man macht sie ebensogut für seinen Nächsten als für sich selbst und nicht für einen unbestimmten Markt, von dem man nichts weiß und über den man keine Kontrolle hat. Und da es kein Kaufen und Verkaufen gibt, würde es reiner Unsinn sein, Güter ins Blaue hinein zu verfertigen, auf die bloße Möglichkeit hin, daß sie vielleicht gebraucht werden; denn jetzt gibt es niemand mehr, der gezwungen werden kann, das Zeug zu kaufen. Und so kommt es, daß alles was verfertigt wird, gut und seinem Zweck entsprechend ist. Nichts kann gemacht werden, außer für den wirklichen Gebrauch und deshalb werden keine minderwertigen Güter mehr hergestellt. Überdies haben wir, wie ich schon sagte, allmählich genau herausgefunden, was wir brauchen, und wir machen deshalb nie mehr, als wir brauchen; und da wir nicht gezwungen sind, eine große Masse nutzloser oder gar schädlicher Dinge zu machen, so haben wir Zeit und Hilfsmittel genug, die Anfertigung der notwendigen Güter als ein Vergnügen zu betrachten. Alle Arbeit, die schwer mit der Hand zu verrichten wäre, wird mit außerordentlich verbesserten Maschinen gemacht, und alle Arbeit, die mit der Hand herzustellen ein Vergnügen ist, wird ohne Maschine angefertigt. Und es ist für niemanden schwierig, die Arbeit zu finden, die ihm besonders gefällt und seinen Neigungen und Fähigkeiten entspricht, so daß keiner für die Bedürfnisse der andern geopfert wird. Manchmal haben wir gefunden, daß die Herstellung irgendeines Gegenstandes zu mühsam oder zu unangenehm war und haben dann auf die Anfertigung verzichtet. Und nun, denke ich, werden Sie gewiß einsehen, daß unter diesen Verhältnissen alle Arbeit eine mehr oder weniger angenehme Beschäftigung für Geist und Körper ist und daß, statt der Arbeit aus dem Weg zu gehen, jedermann sie sucht. Da die Menschen von Generation zu Generation immer mehr Geschick und Fertigkeit erlangten, so wurde die Arbeit allmählich so leicht, daß es den Anschein hat, als würde weniger gemacht, obgleich tatsächlich viel mehr hergestellt wird. Und ich vermute, daß sich hieraus die Befürchtung erklärt, die ich jetzt gerade andeutete, die Arbeit könnte vielleicht knapp werden, was Sie wohl auch schon bemerkt haben — und diese Besorgnis, die schon vor Jahrzehnten sich zu regen anfing, wird stärker und stärker.«

Autor*in

Morris, William

Werk

Ein utopischer Roman. Übersetzt und herausgegeben von Wilhelm Liebknecht. Stuttgart 1914 (8. Aufl.) [Dietz Verlag]. Titel der 1890 erschienenen Originalausgabe „News from Nowhere“. Ab etwa 1920 lautet der Untertitel „Eine Utopie der vollendeten kommunistischen Gesellschaft und Kultur aus dem Jahre 1890“.

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