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Gestaltaufbau

Gestaltaufbau

Der Gestaltaufbau eines Industrieproduktes bzw. dessen Gestaltstruktur wird festgelegt durch die Art der Gestaltelemente, deren Konstellation, mengenmäßige Verteilung und ihr Verhältnis zum Ganzen. In besonderer Weise kommt den beiden Phänomenen Ordnung und Komplexität beim Betrachten des Aufbaus einer Gestalt Bedeutung zu. Ordnung und Komplexität sind zwei Pole eines Gestaltungsprinzips. Demnach besitzt ein Industrieprodukt mit hoher Ordnung geringe Komplexität, ein Industrieprodukt mit hoher Komplexität wenig Ordnung. Dies muss genauer betrachtet werden, weil dieser Zusammenhang die Thematik der Objektästhetik und Ästhetischen Wahrnehmung wesentlich beeinflusst.

Ordnung

Die Ordnung an einem Industrieprodukt wird bestimmt durch eine geringe Anzahl von Gestaltelementen und durch eine geringe Menge von Anordnungseigenschaften. Für die menschliche Wahrnehmung bedeutet hohe Ordnung ein Wahrnehmungsangebot mit geringem Informationsgehalt. Dies hat zur Folge, dass die Gestalt schnell erfasst werden kann. Jede Art von Ordnung verleiht dem Menschen ein Gefühl der Sicherheit, weil er die Objekte mit hoher Ordnung bis in alle Einzelheiten schnell erfassen und begreifen kann und die Wahrnehmung frei wird für andere Angebote. In einer hochkomplexen Umwelt dagegen, in der die vielfältig auf die menschliche Wahrnehmung einströmende Information nicht restlos verarbeitet werden kann, bleibt eine Unsicherheit zurück, die sich negativ auf die menschliche Psyche auswirken kann. Prinzipiell bevorzugen wir daher Objekte mit einer relativ hohen Ordnung. An irgendeinem Punkt auf der Skala zwischen den extremen Punkten Ordnung und Komplexität liegt die Vorliebe der verschiedenen Personen. Wodurch diese Vorliebe beeinflusst wird, soll unter dem Thema Ästhetische Wahrnehmung noch genauer betrachtet werden. Die Ordnung an einem Industrieprodukt ist beeinflussbar durch die Anwendung verschiedener Ordnungsprinzipien, von denen hier nur die wesentlichen genannt werden können. Der tschechische Literaturwissenschaftler Mukarovsky geht der Frage nach, ob ästhetische Prinzipien existieren, die sich aus der anthropologischen Veranlagung des Menschen ergeben. Er vermutet, dass ästhetisches Wohlgefallen entsteht, wenn der Mensch in der gegenständlichen Umwelt Prinzipien erkennt, denen sein eigener Körper unterliegt. Dies ist vor allem das Horizontal- Vertikal-Bezugssystem. Erdboden und Himmel, begrenzt durch die Horizontlinie, zudem die Vertikallinien von Bäumen waren seit je Orientierungspunkte für die menschliche Wahrnehmung. Der überwiegende Teil der gemachten Umwelt des Menschen, die Objekte der Architektur ebenso wie Industrieprodukte, unterliegt dem Ordnungsprinzip des Horizontal-Vertikal-Bezugsrahmens. Ein weiteres Ordnungsprinzip ist die Symmetrie, die Spiegelbildlichkeit oder Gleichförmigkeit. Auch bei der Symmetrie eines Produktes kann diese dem Horizontal-Vertikal- Bezugsrahmen entsprechen, wobei dann zwischen Horizontalsymmetrie und Vertikalsymmetrie unterschieden wird. Horizontalsymmetrische Produkte werden aufgrund der horizontalen Orientierung des menschlichen Wahrnehmungsfeldes und des damit verbundenem geringeren Wahrnehmungsaufwands prinzipiell vertikalsymmetrischen Produkten gegenüber bevorzugt. Aus den bisher betrachteten Ordnungsprinzipien kann geschlossen werden, dass all jene Objekte eine hohe Ordnung besitzen, die wenig Information aussenden, dadurch geringen Aufmerksamkeitswert besitzen und mit wenig Wahrnehmungsaufwand schnell erfassbar sind. Rhythmus, die sich gleichmäßig wiederholende Bewegung oder Anordnung, ist ebenso im menschlichen Körper (Atmung, Herzschlag) enthalten wie in der Natur (Gezeiten, Jahreszeiten). Dementsprechend ist Rhythmus an vom Menschen gemachten Dingen als bevorzugt verwendetes Ordnungsprinzip vorzufinden. Rhythmus entsteht durch Reihung von Gestaltelementen wie Luftschlitzen, Stäben, Bedienelementen, Ziffern oder Ornamenten. Je klarer der Rhythmus wahrnehmbar ist, d.h., je weniger Aufwand bei der Wahrnehmung entsteht, desto höher ist der Grad der Ordnung, aber auch der Eindruck der Monotonie. Verletzt ein Element den Rhythmus der Anordnung (ein Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen), erhöht sich die Komplexität und somit der Wahrnehmungsaufwand.

Komplexität

Das extreme Gegenteil der Ordnung als Aspekt des Gestaltaufbaues ist die Komplexität. Die Komplexität an einem Industrieprodukt wird bestimmt durch eine hohe Anzahl von Gestaltelementen und durch eine umfangreiche Menge von Anordnungseigenschaften. Für die menschliche Wahrnehmung bedeutet hohe Komplexität ein Wahrnehmungsangebot mit umfangreichem Informationsgehalt. Dies hat zur Folge, dass die Aufmerksamkeit des Betrachters über längere Zeit gefesselt bleibt. Durch komplexe Erscheinungen der Umwelt entsteht beim Wahrnehmenden jene Unsicherheit, die zum Teil durch analytische Betrachtung der Gestaltstruktur und das Erkennen ihrer Zusammenhänge abgebaut werden kann. Dadurch wird aber das Interesse des Betrachters in hohem Maße an die Gestalt gebunden… Der Gestaltaufbau eines Industrieproduktes kann durch gezielten Einsatz entsprechender Prinzipien so beeinflusst werden, dass hohe Komplexität entsteht. Dies ist in vielen Fällen durch die Umkehrung der Prinzipien zu erreichen, mit denen hohe Ordnung möglich wird. Jede Abweichung vom Horizontal-Vertikal-Bezugsrahmen (z. B. Diagonale, freie Form) erhöht die Komplexität eines Produktes, löst etwa die Statik auf in Dynamik, manchmal auch in Ungleichgewicht. Dies ist auch durch das Prinzip der Asymmetrie zu erreichen. Das Gegenprinzip von Rhythmus ist das Kontrastprinzip. Kontraste im Gestaltaufbau werden gebildet durch gleichzeitige Verwendung großer und kleiner Formen, glatter und strukturierter Oberflächen, durch aktive und passive Farben usw. Kontraste sind besondere Reize für unsere Wahrnehmung, sind in besonderer Weise dazu geeignet, die Komplexität der Gestaltstruktur zu erhöhen und unsere Aufmerksamkeit zu fesseln…

Autor*in

Löbach, Bernd

Werk

Textauszug aus: Industrial Design. Grundlagen der Industrieproduktgestaltung, München 1976

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